Natürliche Selektion (German Edition)
Sein eiskalter Blick, das durch die Aktion zerzauste Haar und die Pistole am Kopf des Wachmanns überzeugte die Männer, seine Aufforderung ernst zu nehmen. Jeder im Raum wusste, was es bedeutete, die Sicherheitsschlüssel der Schaltpulte abzugeben, aber nach kurzer Zeit lagen sie vor seinen Füssen. Er sammelte sie blitzschnell ein, drängte den entwaffneten Wachmann in die Umkleidekabine vor der Schleuse und verriegelte die Tür.
Zum ersten Mal, seit er ihn am Betreten des Containments hindern wollte, öffnete der Mann seinen Mund: »Das ist Wahnsinn, was ...«
»Handschellen um den rechten Arm und hier festbinden«, unterbrach er ihn ruhig, während er auf das Gestänge der Kleiderablage zeigte. Der Wachmann protestierte, versuchte zu argumentieren, doch Patrick ignorierte ihn, deutete nur weiter mit dem Pistolenlauf auf die Garderobe. Scheinbar ohne Eile wartete er, bis seine Geisel wehrlos mit einem Arm an der Stahlstange hing, dann schaltete er erst die Überwachungskamera aus, schlüpfte in einen der bereitliegenden Schutzanzüge und trat durch die Schleuse ins Innerste des Reaktors. Nur gründliche Arbeit würde jeden Zweifel beseitigen, und nichts und niemand durfte ihn daran hindern.
Die Lähmung der erschütterten Männer im Leitstand löste sich erst allmählich, als ein Monitor nach dem andern ausfiel. »Das Schwein schaltet die Kameras ab!«, rief der zweite Wachmann. Gleichzeitig mit dem Schichtleiter stürzte er ans Pult und hieb auf den Alarmknopf. Das Notsignal hallte schrill durch den Raum, pflanzte sich durchs ganze Gebäude fort und löste in der Überwachungszentrale Großalarm aus. Binnen Sekunden war auf dem riesigen Gelände der Teufel los.
Der Betriebsleiter stürmte mit hochrotem Kopf in den Leitstand. »Was geht hier ab, verfluchte Scheiße?«, schrie er seine Leute an.
Der Wachmann antwortete mechanisch, mit einem Gesicht, als glaubte er selbst kein Wort von dem, was er sagte: »Wir haben eine Geiselnahme im Containment.«
Nach und nach begriff der Betriebsleiter, was geschehen war. Seine Diagnose: ASN Inspektor Fournier drehte durch. Alle Versuche, Kontakt mit ihm aufzunehmen, waren bisher gescheitert. Ein zu allem entschlossener Bewaffneter mit Geisel im Innersten des Reaktors, der sich noch dazu besser auskannte mit der Technologie als sie alle auf dem ganzen verdammten Gelände! Dieser Albtraum war nur noch durch eine Kernschmelze zu überbieten. Eine solche Situation überforderte den eigenen Sicherheitsdienst bei weitem. »Lösen Sie Terroralarm aus!«, instruierte er die Zentrale und setzte sich erst einmal, um sich den Schweiß aus dem Gesicht und von der Glatze zu wischen.
Sein Befehl entfesselte einen Sturm hektischer Aktivitäten. Gleichzeitig mit der Polizei, Feuerwehr, dem Strahlenschutz und der Ambulanz von Pierrelatte, Saint-Paul-Trois-Châteaux, Bollène and Lapalud wurde die Antiterror-Einheit in Lyon aufgeboten. Die Verantwortlichen der Gemeinden in der Gefahrenzone I rund um Tricastin riefen ihre Krisenstäbe zusammen. Spezialeinheiten der nationalen Gendarmerie sperrten das Gelände weiträumig hermetisch ab. Die Überwachungszentrale des Kernkraftwerks wandelte sich zum Kommandobunker im Krieg gegen den Terror, dauernd verbunden mit dem Notfallstab der ASN in Paris und dem Direktor auf dem Rückflug über dem Atlantik.
Die Antiterror-Einheit bezog Stellung im Gebäude des Reaktors 2. Ein Stoßtrupp machte sich mit Plastiksprengstoff und Blendgranaten bereit, den Zugang zum Containment zu stürmen, doch der Einsatzleiter wartete ab. Eine Stunde verging, ohne dass ein Kontakt mit dem Geiselnehmer zustande kam. Noch wollte niemand die Verantwortung für eine gewaltsame Lösung des Konflikts übernehmen. Die Gefahr, dass dabei kritische Teile der Anlage beschädigt würden, war zu groß. Endlos zogen sich die Minuten hin. Der Terrorist, wie sie den Inspektor nun nannten, ließ sie vollkommen im Dunkeln. Niemand wusste, was im Innern des Reaktors vor sich ging. Plötzlich zerriss lautes Hupen die gespannte Stille. Ein Alarm, wie ihn die Angestellten an diesem Abend schon einmal gehört hatten. Die Notstromversorgung drohte unter die notwendige Minimalleistung zu fallen. Der Betrieb der Kühlpumpen war hochgradig gefährdet. Niemand hatte den Leistungsabfall bemerkt, da die ganze Aufmerksamkeit den Vorgängen im Containment galt.
»SCRAM!«, schrie der Betriebsleiter. Egal was die ASN befohlen hatte, jetzt half nur noch die Notabschaltung.
»Nicht möglich!«,
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