Natürliche Selektion (German Edition)
hielt sich nicht mit Höflichkeitsfloskeln auf, stellte sich nur kurz vor und verlangte Zugang zum Archiv.
Der Beamte schien die Bedeutung des Kürzels ›ASN‹ nicht zu erfassen. Er fragte naiv: »Wann, weshalb?«
»Sofort. Ich bin in zehn Minuten am Gate. Und klingeln Sie den Chef aus den Federn!«, schnauzte er und legte auf.
Wie erwartet wirkte sein Anruf wahre Wunder. Der Betriebsleiter und seine Truppe aufgeschreckter Kaderleute trafen gleichzeitig mit ihm ein. Hektische Betriebsamkeit erfüllte mit einem Schlag die sonst eher beschauliche Nachtschicht. Die Lichter in den Büros flammten wieder auf, und bald glich die Überwachungszentrale mit ihrem Wald aus Bildschirmen und Schaltpulten einem militärischen Kommandoposten im Ausnahmezustand. Patrick hatte die Verantwortlichen bei ASN bereits vorgewarnt, doch bevor er den folgenschweren Befehl erteilte, musste hundert Prozent sicher sein, dass er sich nicht täuschte. Ein Mitarbeiter brachte ihm die verlangten Berichte aus dem Archiv. Er kümmerte sich nicht um den Betriebsleiter und seine Manager, die ihn schweigend umringten, ihn misstrauisch und teils offen feindselig beobachteten. Rasend schnell blätterte er durch die Akten, bis er sie schließlich mit steinerner Miene zur Seite schob.
»Meine Herren, wir haben ein gigantisches Problem«, sagte er. Bevor er den verblüfften Männern erklärte, woraus ihr Problem bestand, hängte er sich nochmals ans Telefon. Außer Hörweite der Beobachter beriet er sich ein zweites Mal mit seinem Direktor, der inzwischen den Notfallstab zu einer Konferenzschaltung zusammengerufen hatte. Er musste sich in Paris absichern, aber der Fall war klar.
»Welches Problem?«, fragte der Betriebsleiter, nachdem er den Anruf beendet hatte. Es war deutlich zu hören, dass er seinen Ärger nur mühsam unterdrückte.
Patrick ließ seinen Blick über die Verantwortlichen schweifen, versicherte sich ihrer vollen Aufmerksamkeit, dann sagte er ohne Umschweife: »Sie müssen die vier Reaktoren herunterfahren.«
Einen Augenblick war es so still, als bliebe die Zeit stehen. Keine Bewegung, kein Atemzug waren zu hören, doch der Tumult, der danach folgte, überraschte selbst ihn. Die ganze Anspannung der Herren entlud sich in einer Explosion überraschter Rufe, wüster Schimpfwörter und gequälten Gelächters. Schließlich gebot der Betriebsleiter Ruhe und fragte stellvertretend für seine Männer: »Warum sollten wir so etwas Verrücktes tun?«
Patrick zeigte auf die Revisionsberichte. »Ich gehe davon aus, dass diese Protokolle korrekt sind?«, fragte er zurück.
»Selbstverständlich, sie sind ja von Ihrer Behörde gegengezeichnet.«
»Eben. Deshalb müssen die Reaktoren vom Netz. Aus diesen Berichten geht hervor, dass vor rund zwei Jahren alle vier Primärkreisläufe mit neuen Dichtungen des Typs ALC-JH538-III bestückt worden sind. Ist das richtig?«
»Unter anderem sind neue Dichtungen eingesetzt worden, stimmt«, antwortete einer der Männer, während er die alten Berichte durchblätterte. »ALC-JH538-III, richtig«, bestätigte er, nachdem er die Ordner aller Reaktoren überprüft hatte.
Patrick nickte befriedigt. »Gut, soweit sind wir uns also einig. Das Problem ist nun, dass wir seit kurzem wissen, dass diese Dichtungen fehlerhaft sind.« Er hielt dem Betriebsleiter die Seite mit der Zusammenfassung der Testresultate des Typs ALC-JH538-III vor die Nase und fuhr fort: »Die Zulieferfirma hat diese Messergebnisse unterschlagen, sonst wären niemals solche Dichtungen eingesetzt worden. Wie Sie sehen, werden die Teile nach zwei, zweieinhalb Jahren spröde und brüchig. Bei einem Druck von fünfzehn Megapascal besteht also akute Gefahr, dass Ihre Primärkreisläufe schlagartig undicht werden. Ich muss Ihnen nicht erklären, was das bedeuten würde.«
Diesmal herrschte betretenes Schweigen.
»Alle vier, das ist Wahnsinn«, murmelte der Leiter schließlich bestürzt.
Patrick blieb ruhig. »Sie haben keine Wahl, meine Herren.«
»Das muss die Direktion entscheiden.«
»Sicher«, nickte Patrick. »Rufen Sie die Leute zu einer Krisensitzung zusammen. Wir werden den Notfallstab der ASN über Telefon zuschalten, die Spezialisten warten schon. Denken Sie daran, es muss schnell gehen. Wir dürfen keine Zeit mehr verlieren.«
Das Team des Betriebsleiters beriet sich kurz mit gedämpften Stimmen, bis sich der Chef wieder an ihn wandte: »Der Direktor ist in den USA auf Geschäftsreise. Wir werden versuchen, ihn auch in die
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