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Natürliche Selektion (German Edition)

Natürliche Selektion (German Edition)

Titel: Natürliche Selektion (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H. J. Anderegg
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freundlich, sondern senkte den Blick und sagte schnell im Vorbeigehen: »Der Eingang wird von Journalisten belagert.« Dann war sie verschwunden.
    Leo verstand sofort. Sie drehte sich um und eilte zu den Aufzügen in die Tiefgarage. Dank diesem Schmierfink schleichst du dich aus dem Haus wie ein Dieb! , dachte sie bitter, als sie die Tür der Garage vorsichtig öffnete. Auf dieser Seite des Gebäudes war nichts Ungewöhnliches zu sehen. Sie trat ins Freie und machte sich bald inmitten der Passanten unsichtbar. Auf dem Weg zu ihrer Wohnung begriff sie allmählich, welch neue Katastrophe über sie hereingebrochen war. Wer auch immer hinter dieser Attacke steckte, was bezweckte er damit, sie derart zu verunglimpfen? Jetzt, wo sie mit neuem Elan hoffte, dem Geheimnis hinter Michels Tod endlich auf die Spur zu kommen, ausgerechnet jetzt forderte die Abwehr dieser Schmierenkampagne ihre volle Kraft und Aufmerksamkeit. Zufall? »Nein!«, rief sie laut. Sie achtete nicht auf die erschrockenen Blicke der Passanten. Vielleicht lag sie völlig falsch, reagierte paranoid, aber sie konnte nicht verhindern, dass sich die Gewissheit in ihr mit jedem Schritt festigte. Die Gewissheit, dass man sie mit brutalsten Mitteln daran hindern wollte, die Wahrheit zu erfahren. »Nicht mit mir!«, schleuderte sie dem älteren Pärchen entgegen, das hier zufällig seinen Dackel spazieren führte.
    Audrey war nicht in der Wohnung. Sie wunderte sich, denn ihre Tochter wollte erst abends nach Lyon zurückfahren. Es sah aus, als wäre sie überstürzt abgereist. Die Post lag unordentlich verstreut auf dem Esstisch. Ein Zettel mit Audreys Handschrift lag obenauf, und als sie sah, was darunter hervorguckte, brauchte sie ihn nicht mehr zu lesen. »Nein!«, stöhnte sie gequält. Audreys wütender Abschiedsbrief lag auf der Seite des ›Parisien‹ mit den kompromittierenden Fotos. Jemand musste ihr die Ausgabe in den Kasten gesteckt haben. Sie setzte sich mit einem wüsten Kraftausdruck und griff zum Telefon. Unschlüssig hielt sie es in der Hand, dann legte sie es wieder weg. Keine gute Idee, Audrey jetzt anzurufen. Sie war zu aufgewühlt, und ihre Tochter wohl nicht weniger. Sie stellte den Apparat ab. Heute war Dr. Bruno nicht mehr zu erreichen. Im Nachhinein dankte sie dem unergründlichen Schicksal, dass sie unbehelligt nach Hause gekommen war. Keine Selbstverständlichkeit mehr, neuerdings.
    Bei einem kleinen Schwarzen sichtete sie lustlos den Rest der Post. Zwei Briefe an Michel waren dabei, die sie behutsam zur Seite legte, als fürchtete sie, sein Andenken zu beschädigen. Er hatte selbst dafür gesorgt, dass seine Post an ihre Adresse umgeleitet wurde. Nachdem die üblichen Reklamen und nutzlosen Gutscheine entsorgt waren, nahm sie Michels Briefe und wollte sie zum ansehnlichen Häufchen legen, das sich angesammelt hatte, seit er nicht mehr da war. Seine Post lag unversehrt in einer Schublade. Ihr fehlte bisher einfach die Kraft, die Umschläge zu öffnen.
    Einer der Briefe kam aus Italien, Venedig. Sie stutzte, las den Namen des Absenders. In ihrem Kopf begann sich alles zu drehen. Sie glaubte, die wärmenden Sonnenstrahlen auf ihrem Rücken zu spüren, sah sich Arm in Arm mit Michel den Lido entlang spazieren, saß wieder im hässlichen Palazzo del Cinema, hörte den Dottore von unerklärlichen Lebensformen reden. Lombardi, Roberto Lombardi war sein Name, und der stand auf Michels Brief. Sie öffnete ihn mit zittriger Hand und begann zu lesen. Doch wie sehr sie sich auch bemühte, sich zu konzentrieren, sie verstand die von vielen unbekannten Fachausdrücken übersäte Nachricht nicht. Nur eines wurde sofort klar: der Dottore berichtete von wichtigen neuen Erkenntnissen, überraschenden Erkenntnisse, wie er schrieb. Ihr Entschluss war schnell gefasst. Sie griff nochmals zum Telefon.
Venedig
    Die Maschine landete pünktlich auf dem Flughafen Marco Polo am nördlichen Ufer der Lagune von Venedig. Die kühle, moderne Architektur und der emsige Betrieb in der Ankunftshalle gaben Leo nicht das Gefühl des Wiedersehens mit der Serenissima. Die schmerzliche Erinnerung an das kurze, leidenschaftliche Zwischenspiel mit Michel stellte sich erst auf dem Boot ein, als es gemächlich durch den Grossen Kanal von Murano schaukelte und die Umrisse des Lido in der Ferne auftauchten. Die kolossale weiße Kuppel des Tempio Votivo kündete von weitem die Station an, wo die Vaporetti von und nach San Marco anlegten. Einen Moment spürte sie den Drang,

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