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Natürliche Selektion (German Edition)

Natürliche Selektion (German Edition)

Titel: Natürliche Selektion (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H. J. Anderegg
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auszusteigen, nochmals unter den Kastanien, Linden und Platanen die Gran Viale Santa Maria Elisabetta entlang zum Strand zu schlendern, im üppigen Park des Grandhotels nichts zu tun. Die Zeit zurückzudrehen, oder wenigstens die verlorene Zeit für einige Augenblicke neu aufleben zu lassen. Schweren Herzens wandte sie sich ab, schaute aufs Wasser der Lagune hinaus und wartete ungeduldig, bis das Boot wieder ablegte.
    »Mit dem Vaporetto zur Accademia, über die Brücke und den Touristen nach zum Campo«, lauteten die Instruktionen des Dottore Lombardi. Sie folgte der venezianischen Wegbeschreibung und fand das Haus des ECLT am Campo Francesco Morosini auf Anhieb. Lombardi, der Mikrobiologe, wirkte hier als eine der wissenschaftlichen Koryphäen am ›European Centre for Living Technology‹. Das Haus unterschied sich nicht von den für die ganze Altstadt typischen, rötlich braunen, leicht windschiefen Backsteingebäuden mit grünen Fensterläden und bröckelndem Verputz, die der Serenissima ihren morbiden Charme verliehen. Der Gegensatz zwischen außen und innen jedoch könnte kaum auffälliger sein. Statt muffige Räume mit schweren Gardinen, antiken Möbeln und dunklen Holzpaneelen an den Wänden erwarteten sie lichtdurchflutete, helle Büros, deren schlichte Holztische, Computerbildschirme und Halogenleuchten eher an moderne Schulzimmer erinnerten. Zur internationalen Institution passte auch, dass Lombardi sie wie selbstverständlich in englischer Sprache begrüßte, obwohl sie beide fließend italienisch sprachen.
    Sie erwiderte seinen energischen Händedruck und sagte: »Dr. Lombardi, ich danke Ihnen, dass Sie mich so kurzfristig empfangen, und erst noch am Wochenende. Es ist sehr wichtig für mich, alles über diese unbekannte Krankheit zu erfahren. Um eine Krankheit handelt es sich doch, nicht wahr?«
    Er nickte zögernd. »Letztlich wirkt die Lebensform als Krankheitserreger, das kann man so sagen. Aber ich möchte Ihnen zuerst mein Beileid aussprechen, Signora. Ich war schockiert, als ich vom schrecklichen Unfall und den Hintergründen hörte.«
    »Danke«, murmelte sie leise, während sie den Brief aus der Tasche nahm, der sie nochmals nach Venedig gelockt hatte. »Wie ich schon am Telefon sagte, habe ich Ihren Brief an Michel gelesen. Sie schreiben von überraschenden Ergebnissen, die ich aber nicht verstanden habe.«
    »Ja richtig. Tut mir leid, dass ich mich nicht deutlich ausgedrückt habe, aber das können wir jetzt korrigieren. Da Sie nicht vom Fach sind, gestatten Sie mir, dass ich etwas aushole.« Er drückte ein paar Tasten auf seinem Keyboard und zeigte auf den Bildschirm. »Kommen Sie, setzen Sie sich neben mich und sehen Sie selbst.« Ein großes Fenster in der Mitte seines Monitors öffnete sich. Eine Art grüne Seifenblase zeichnete sich vor violett-schwarzem Hintergrund ab. Sie bewegte sich, oder besser: die undeutlichen Strukturen in ihrem Innern bewegten sich und verformten die Membran, die alles zusammenhielt. »Es ist ein Falschfarbenbild, um den Kontrast zu verbessern«, erklärte Lombardi. »Die Vergrößerung ist enorm. In Wirklichkeit ist das Bläschen gerade mal so breit wie ein Haar.«
    Leo hatte keine Ahnung, was sie hier betrachtete. »Ist das diese RNA Lebensform?«, fragte sie unsicher.
    »Nein, das ist unser bescheidenes Werk. Wir nennen es ›SPC-68‹, sagen aber nur Spice. SPC steht für ›Synthetic Proto Cell‹. Wie die Bezeichnung andeutet, ist es die vollkommen künstlich hergestellte Vorform einer Zelle. Eine Vorstufe künstlichen Lebens, synthetisiert aus einfachen organischen Molekülen.«
    Sie verstand zwar immer noch nicht, was diese Blase mit ihrem Problem zu tun hatte, aber sie erinnerte sich an einen Artikel, den sie schon vor mindestens fünf Jahren in einer Fachzeitschrift gelesen hatte. Damals war die Rede von synthetischem Leben, dessen Herstellung in Labors nur noch »eine Frage von zwei bis drei Jahren« wäre. »Der alte Traum der Biologen vom synthetischen Leben«, bemerkte sie etwas spöttisch.
    »Ganz genau«, antwortete Lombardi mit ernstem Gesicht. »Und wir sind der Verwirklichung dieses Traums einen Riesenschritt näher gekommen – dank der Probe, die uns Michel zur Untersuchung geschickt hat. Wir haben einen Teil der molekularen Struktur dieses Wesens nachgebildet und mit unseren früheren Ergebnissen kombiniert. Dabei haben wir festgestellt, dass die Chemie der synthetischen Zellmembran optimal mit den RNA-Ketten im Innern zusammenarbeitet.

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