Natürliche Selektion (German Edition)
Das ist sehr, sehr wichtig für mich, damit ich eben keine Dummheit mache, wie du dich ausdrückst. Ich brauche deine Unterstützung. Hilfst du mir dabei?«
Audrey schwieg. Sie nickte nur und schlug dabei die Augen nieder, als wollte sie gehorsam sagen: »Aye aye, Sir!«
KAPITEL 7
Hôpital Pitié-Salpêtrière, Paris
L eos erster Versuch, nach der Katastrophe von Tricastin mit Patricks Verlobten Chantal zu sprechen, war kläglich gescheitert. Der Tod ihres Partners hatte die zierliche Literatin völlig aus der Bahn geworfen. Sie schluchzte nur am Telefon, erging sich in grotesken Vorwürfen gegen sich und alle Welt. Leo konnte sie nicht beruhigen, an Trost war schon gar nicht zu denken. Ihr fiel nichts Besseres ein, als ihr eine Kollegin zu empfehlen.
Zwei Wochen hatte sie nichts mehr von ihr gehört, nun versuchte sie es nochmals. Chantal, so schien ihr, müsste eine natürliche Verbündete bei ihrer Suche nach den Hintergründen sein. Während sie am Telefon wartete, bis jemand abnahm, klickte sie sich durch das übliche Dutzend Mails, das sie jeden Morgen in ihrer Praxis erwartete. Zuoberst im Inputfach lagen zwei als dringend gekennzeichnete Nachrichten, aber auch sie mussten warten. Eine fremde Männerstimme meldete sich. Chantals Bruder. Sie stellte sich vor und fragte nach seiner Schwester.
»Moment«, antwortete er barsch. Eine Weile blieb es still in der Leitung, dann hörte sie eine laute Frauenstimme. Chantal? Kurz danach war wieder der Mann am Apparat: »Sie will Sie nicht sprechen.«
Leo erschrak. »Aber – warum?«, stammelte sie verwirrt.
»Sie sagt, Patrick war bei Ihnen in Behandlung. Sie hätten sie nicht gewarnt.«
Chantals Stimme war jetzt ganz nah. Sie hörte ihren Zwischenruf deutlich: »Warum hast du es nicht verhindert?«
Es knackte in der Leitung, dann ertönte der Summton. Sie legte konsterniert auf. Ihre Hand zitterte leise. Die Frau litt an einem schweren Trauma. Auf ihre Art suchte sie verzweifelt Antwort auf die Frage nach dem Warum. Verständlich, dass sie in ihrem Zustand die Schuld an Patricks Tod der Seelenärztin gab, der er sich ohne ihr Wissen anvertraut hatte. Irgendwie musste sie von ihrer Sitzung mit Patrick erfahren haben. Auch das erstaunte sie nicht wirklich. Der Tod brachte vieles ans Licht.
Nach dem kurzen Gespräch fühlte sich Leo hilflos, verletzt, trotz ihrer nüchternen Analyse. »Ein scheußlicher Morgen«, seufzte sie, doch der Tag hatte erst begonnen. Sie klickte lustlos auf die erste der mittlerweile fünf dringenden Nachrichten auf ihrem Bildschirm. Sie stammte von Edmonds privater Adresse. Was konnte so dringend sein, das er ihr an seinem freien Tag am frühen Morgen in die Klinik schicken musste? Sein Text war kurz:
Leo, wir haben ein Problem!
Der Parisien hat wieder zugeschlagen. Lies den Artikel und versuch, ruhig zu bleiben. Ich bin unterwegs.
Edmond
Der Anhang war umso größer. Eine Datei mit dem Zeitungsausschnitt, der ihren Assistenten so ungewohnt früh aus den Federn getrieben hatte. Sie wartete ungeduldig, bis der Artikel auf dem Display erschien. Wie erwartet bestand er aus einer fetten Schlagzeile, Text und einer ganzen Reihe Fotos. Schon bei der Überschrift stutzte sie: »Familie zerstört durch Fehldiagnose der Salpêtrière«, und darunter, nur wenig kleiner: »Ist die Chefärztin der Psychiatrie noch tragbar?« Ein Frontalangriff des Massenblattes gegen ihre Person. Ungläubig las sie weiter. Erst begriff sie nicht, was dies alles mit ihr zu tun haben sollte, bis sie das Foto des Mannes sah, an den sie sich sehr gut erinnerte. Der Reporter des ›Parisien‹, diesmal nicht Chevalier, berichtete vom Patienten, den »Dr. Eleonora Bruno, die bekannte Leiterin der Psychiatrie, gegen die eindeutige Diagnose ihres Stellvertreters, Privatdozent Dr. Sebastian Muehlberg« als geheilt entlassen hatte, dessen »unvermeidlicher Suizid« eine bedauernswerte Familie ins Elend gestürzt und drei »unschuldige kleine Kinder im Vorschulalter zu Halbwaisen« gemacht hatte. Fotos der Familie »aus glücklicheren Tagen« unterstrichen die Tragödie.
Sie rieb sich die Augen. Die stellten den Fall so dar, als hätte sie den armen Mann eigenhändig umgebracht. Das durfte nicht wahr sein. Woher wusste der Schreiber von ihren Differenzen mit Muehlberg? Nach dem ersten Schreck spürte sie nur noch Ärger über das gemeine Traktat. Sie hatte große Lust, die Mail mitsamt Anhang in den elektronischen Mülleimer zu werfen, zwang sich aber doch
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