Natürliche Selektion (German Edition)
Die kleine Seifenblase hier hat einen primitiven Stoffwechsel. Sie nimmt Nährstoffe aus der Umgebung auf und produziert Proteine.« Er sprach sehr schnell, als fürchtete er, den Faden zu verlieren. »Leider ist die Mobilität von Spice noch eingeschränkt. Es sucht sich sein Futter noch nicht selbständig. Und – es pflanzt sich noch nicht fort«, fügte er bedauernd hinzu.
Sie verstand seine Begeisterung. Die künstliche Herstellung einer Lebensform aus einfachen, ›toten‹ Molekülen würde den Schleier über einem der größten Geheimnisse des Universums lüften. Verstehen zu lernen, wie Leben entsteht, war die wichtigste Aufgabe schlechthin für Biologen. »Das ist allerdings überraschend«, gab sie zu, »und es freut mich, dass die Probe so nützlich für Ihre Forschung ist, aber – mir ist noch nicht klar, was ich daraus schließen soll.«
Er nickte schmunzelnd. »Das erstaunt mich nicht«, sagte er und erhob sich. »Das ist die zweite Überraschung. Die besprechen wir am besten draußen auf dem Campo bei einem Kaffee mit Dolci – an diesem sonnigen Nachmittag. Was meinen Sie?« Er bot ihr galant die Hand an, um ihr aus dem Sessel zu helfen.
»Schon überredet«, lachte sie und sprang auf, ohne die Hand zu ergreifen.
Sie ließen sich ein paar Schritte im Strom der Touristen treiben der nur eine Richtung kannte: dem Campo entlang, an der Kirche des Santo Stefano vorbei zum Markusplatz. Nahe der Kirche setzten sie sich an ein Tischchen im Schatten.
»Ein Glück, ist der Markusplatz so groß«, spottete Lombardi. »So versammeln sich nicht nur die Tauben dort, sondern auch die Besucher, und drum herum haben wir Venezianer unsere Ruhe.«
»Praktisch. Und einmal im Jahr lassen Sie ihn vom Meer gratis reinigen.«
»So ist es«, grinste er und nippte genussvoll am Grappa, den er zum Kaffee bestellt hatte.
Sie löffelte schweigend ihre Zabaglione, während sie den vorwitzigen Spatzen beim Abräumen des Nachbartisches zuschaute. Dabei kaute sie ein Biskuit nach dem andern. Sie bemerkte Lombardis amüsierten Blick erst, als beide Teller leer waren. »Hab noch nichts gegessen«, murmelte sie verlegen.«
»Hätten Sie doch etwas gesagt. Ich kenne einige ausgezeichnete Osterie hier ...«
»Nein, danke«, unterbrach sie lächelnd. »Die Kohlenhydrate genügen fürs Erste. Erklären Sie mir lieber die zweite Überraschung.«
»Die zweite Überraschung – ja ...« Er strich sich nachdenklich übers Kinn. »Die wird sie schockieren, Signora.«
»Schockieren? Nur zu, mich kann nicht mehr viel schockieren, glauben sie mir.«
»Na ja, wir werden sehen. Wie sie wissen, haben wir natürlich nicht nur die Zellmembran der Probe untersucht, sondern vor allem auch die RNA-Stränge im Kern. Wir glaubten zuerst an einen Irrtum, irgendeine Fehlfunktion unseres Sequencers, aber wir haben uns nicht getäuscht. In den Ketten des Erbmaterials haben wir eindeutige Marker entdeckt.« Er schaute sie vielsagend an, wartete gespannt auf ihre Reaktion, doch sie begriff nicht, was seine Worte bedeuteten.
»Marker?«, fragte sie naiv.
»Biologische Markierungen. Atome, Moleküle, die eindeutig auf die Herkunft der Gensequenzen schließen lassen, Signora. Sie sind wie ein Fingerabdruck, mit dem wir den Hersteller der RNA identifizieren können.«
Endlich fiel der Groschen. »Hersteller?«, rief sie verwundert aus. »Heißt das, die RNA ist künstlich hergestellt, in einem Labor?«
»Ganz genau«, grinste er. »Es ist eine bekannte Gentechnikfirma in Bayern. Die Adresse steht in meinem Brief an Michel.«
Diese Überraschung war ihm gelungen. »Ich brauche jetzt auch einen Grappa«, murmelte sie in Gedanken versunken. Künstlich hergestellt, Menschen hatten das schleimige Monster geschaffen! Es war, als öffnete sich eine bisher verborgene Tür, einen Augenblick nur, gerade lang genug, um einen ersten, kurzen Blick auf das Geheimnis der vier toten Freunde zu werfen. Sie stürzte das hochprozentige Destillat in einem Zug hinunter.
»Prost«, lachte Lombardi bewundernd.
Der Schnaps brannte wie Feuer in ihrer Kehle. Sie hustete und keuchte mit rotem Kopf: »Diese Firma in Bayern hat das Ding produziert?«
»Nicht direkt. Soweit mir bekannt ist, haben sich die auf die Herstellung von RNA- und DNA-Sequenzen spezialisiert. Sie bauen gewissermaßen die Legosteine nach der Spezifikation ihrer Kunden. Zusammengesetzt und weiterverarbeitet werden sie dann von den Auftraggebern.«
»Die versenden also Reagenzgläser mit biologischen
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