Natürliche Selektion (German Edition)
noch, auf die nächste Seite zu blättern. Sie hätte es besser gelassen, wie sie auf den ersten Blick bemerkte. Was sie bisher gelesen hatte, war offenbar nach Meinung des Schreibers nur die traurige Ausgangslage. Die zweite Seite war nichts anderes als eine Kriegserklärung an sie, und sie begann mit einem verheerenden Schuss vor den Bug.
Der Verdacht liegt nahe, dass die ehemals renommierte Psychiaterin Eleonora Bruno falsche Prioritäten setzt. Ist es möglich, dass ihr die stürmische Liebe zu einem sehr jungen Kollegen den Blick trübt? Die Bilder, die der Redaktion zugespielt wurden, sprechen jedenfalls eine deutliche Sprache. Zur selben Zeit, als ihr schwer kranker Patient buchstäblich um sein Leben kämpfte, vergnügte sich die Ärztin schamlos in aller Öffentlichkeit mit ihrem jungen Lover im Jardin des Plantes, wenige Blocks von ihrer Praxis entfernt. Entscheiden Sie selbst: verhält sich so eine Chefärztin der Psychiatrie, die sich ihrer schweren Verantwortung bewusst ist? Ihr fast noch jugendliche Liebhaber ist inzwischen einem tragischen Unfall zum Opfer gefallen. Umso dringender stellt sich die bange Frage: ist Eleonora Bruno ihrer Aufgabe noch gewachsen?
Als wäre der Text allein nicht Erniedrigung genug, raubte ihr der Blick auf die Fotos endgültig den Atem. Eine ganze Sequenz obszöner Bilder eines Paares in den Büschen war neben ihrem ohnehin nicht sehr schmeichelhaften Porträt abgedruckt. Eindeutige Stellungen. Die Frau mit hochgezogenem Rock, vornüber gebeugt, nackt darunter, wie eine läufige Hündin von hinten befriedigt. Das vergnügte Gesicht war auf allen Fotos deutlich zu erkennen: ihr Gesicht, ohne Zweifel. Leo schnappte nach Luft. Sie würgte, rannte zur Toilette und kotzte sich die ganze Enttäuschung und Wut aus dem Leib. Wieder und wieder wusch sie Gesicht und Hände mit heißem und kaltem Wasser, als könnte sie sich so vom Dreck in der Zeitung befreien. Aus dem Spiegel starrte ihr das blasse Gesicht einer Fremden entgegen, einer abgehärmten, gealterten Frau mit verweinten, roten Augen. Sie konnte nicht fassen, was sie gesehen hatte. Die ungeheuerlichen Bilder gingen ihr nicht aus dem Kopf, verdrängten jeden klaren Gedanken.
Sie wusste nicht, wie lange sie so vor dem Spiegel gestanden hatte, als sie plötzlich zusammenzuckte. Jemand klopfte an die Tür. Eine gedämpfte Stimme rief:
»Leo, bist du da drin? Ich bin’s, Edmond.«
Schnell strich sie die Haare aus der Stirn, trocknete die Augen und ging hinaus. Sie nickte ihrem Assistenten wortlos zu, vermied es, ihm dabei ins Gesicht zu sehen. Er folgte ihr zur Praxis, zog sich jedoch diskret zurück, als er sah, wer im Vorzimmer auf sie wartete. Ihre Praxishilfe stöckelte nervös um die beiden Männer herum, die sie dringend sprechen wollten.
»Bastien! Was hast du denen erzählt?«, schrie sie Muehlberg an, der sich mit der Zeitung in der Hand instinktiv hinter dem Direktor verschanzte. Statt Muehlberg antwortete der Direktor mit gepresster Stimme:
»Dr. Bruno, können Sie mir erklären, was das zu bedeuten hat?« Er nahm Muehlberg die Zeitung aus der Hand und hielt sie ihr mit verkniffenem Gesicht vor die Nase.
»Nichts hat es zu bedeuten«, zischte sie wütend. »Es ist ein Haufen Lügen, nichts anderes. Sie wissen, dass das alles leere Behauptungen sind, Monsieur le directeur, nicht wahr?«
Ihre schroffe Art schien den Direktor zu verunsichern. »Aber – die –Fotos«, stammelte er. Sie sah ihm an, dass das Wort fast nicht über seine Lippen wollte.
»Die Fotos!«, schnaubte sie verächtlich. »Fälschungen, raffinierte Fälschungen natürlich, nichts weiter.« Die Sprechstundenhilfe hatte den Raum längst verlassen. Sie war allein mit den Männern, von denen einer sie seit langem als lästige Konkurrentin zum Teufel wünschte. Der andere, der Direktor, musterte sie skeptisch. Sie erkannte, dass er den scheußlichen Bildern in der Zeitung mehr glaubte als ihren Worten. »Das ist zuviel!«, warf sie ihrem verdatterten Chef an den Kopf. Sie eilte zur Garderobe, raffte ihre Sachen zusammen, die sie vor weniger als einer Stunde dort abgelegt hatte, und ließ die Männer stehen. »Fragen Sie Muehlberg, er weiß sicher mehr!«, rief sie dem Direktor nach, bevor die Tür hinter ihr zufiel. Sie kochte vor Wut. Wut über die infame Verleumdung, ebenso wie ohnmächtige Wut über das mangelnde Vertrauen des Direktors.
Auf der Treppe begegnete ihr Charlotte. Anders als sonst lächelte die Schwester nicht
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