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Natürliche Selektion (German Edition)

Natürliche Selektion (German Edition)

Titel: Natürliche Selektion (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H. J. Anderegg
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betrachtete das Foto stirnrunzelnd. Schließlich schüttelte sie den Kopf und antwortete unsicher: »Ich kann mich nicht erinnern. Irgendwie kommt er mir schon bekannt vor.« Sie nahm das Bild in die Hand, schaute es nochmals genau an und schüttelte wieder den Kopf. »Zehn Jahre, sagen Sie? Ich wirte seit vier Jahren hier. Damals war ich noch Krankenschwester in der Klinik.«
    Leo fühlte, wie ihr das Blut in die Schläfen schoss. Ihr Puls erhöhte sich schlagartig. Sie warf Audrey einen verstohlenen Blick zu, als sie bemerkte: »Klinik, das könnte stimmen. Vielleicht erinnern Sie sich an seinen Namen, Michel Simon aus Paris. Er war mit einer ganzen Gruppe gleichaltriger Studenten hier.«
    »Die Truppe des Colonel!«, rief die Wirtin aus und schlug sofort die Hand auf den Mund, als bereute sie, was sie gesagt hatte. Leo wagte nicht, Audrey anzusehen. Sie wartete, hoffte, die Frau würde weiterreden, doch stattdessen sprang sie mit einer kurzen Entschuldigung auf und eilte ins Haus. Audrey reagierte blitzschnell. Sie gab ihrer Mutter einen Wink, sitzen zu bleiben, und folgte der Wirtin unauffällig. Es dauerte nicht lange, bis Audrey wieder zurückkehrte.
    »Nun, was ist? Hast du etwas gesehen?«, drängte Leo.
    »Sie telefoniert in einem Nebenzimmer. Ich hab’s durch den Türspalt gesehen. Konnte leider nichts verstehen. Aber sie scheint sehr aufgeregt zu sein.«
    »Die Truppe des Colonel«, murmelte Leo nachdenklich. »Ich glaube, sie erinnert sich ganz genau an die Männer.«
    »Scheint mir auch so. Aber wer ist dieser Colonel?«
    Leo kam nicht mehr dazu, zu antworten. Die Wirtin kehrte zurück und entschuldigte sich wortreich. »Wäre beinahe schief gegangen. Man sollte den Herd nie zu lange allein lassen«, meinte sie.
    »Wir wollten Sie nicht von Ihrer Arbeit abhalten ...«
    »Nein, schon in Ordnung, jetzt habe ich Zeit.« Sie setzte sich und musterte ihre beiden Gäste eine Weile schweigend. Plötzlich fragte sie misstrauisch: »Warum interessieren Sie sich für diese längst vergangene Zeit? Wer sind Sie?«
    Leo zeigte auf Michels Foto und antwortete leise: »Michel ist tot. Er war ein – guter Bekannter. Auch vier seiner Freunde, die damals dabei waren, sind gewaltsam ums Leben gekommen.«
    »Das tut mir leid.« Wieder schaute sie Leo und Audrey eine Weile nachdenklich an, bevor sie murmelte: »Er war mehr als ein guter Bekannter, nicht wahr?«
    Leo nickte. Sie durfte nichts über ihren Verdacht preisgeben, sonst würde sie wohl die Wahrheit nie erfahren. Aber sie musste die Fragen stellen, also lenkte sie das Gespräch sofort wieder auf die damaligen Ereignisse: »Sie sprachen von der Truppe des Colonel?«
    »Ach ja, so nannten wir die Jungs in der Klinik. Acht oder zehn Studenten, die wir im Auftrag der Schule betreuten. Der Colonel war ihr Tutor. Er ist selbst nie in Erscheinung getreten. Jedenfalls kann ich mich nicht an ihn erinnern.«
    »Die Männer waren Patienten in der Klinik? Was fehlte ihnen denn?«
    Die Wirtin zögerte. »Eigentlich nichts mehr. Die Klinik war ein Rehabilitationszentrum. Die Patienten kamen zu uns, um sich wieder an den Alltag zu gewöhnen.«
    Audrey konnte nicht mehr länger schweigen. »Zehn Kommilitonen, alle gleichzeitig in der Reha!«, rief sie aus. »Merkwürdig.«
    Leo warf ihr einen strafenden Blick zu und fragte ruhig: »Wo liegt diese Klinik?«
    »Weiter unten am Doubs. ›St. Ursicinus‹ hat sie geheißen, aber das Haus ist eine Ruine. Die Klinik gibt’s seit Jahren nicht mehr.«
    Sie sah, wie Audrey innerlich schimpfte, doch sie gab noch nicht auf. »Einige der Männer scheinen sich sehr lebhaft an Sie zu erinnern.«
    »Jungs!«, lachte sie. »Die hingen doch an jedem Rockzipfel.«
    »Mag sein, aber Sie haben offensichtlich den tiefsten Eindruck hinterlassen. Sogar Ihren Namen haben sie nicht vergessen. Meta, das ist doch ihr Name?«
    Sie nickte erstaunt. »Das überrascht mich jetzt schon ein wenig, muss ich sagen. Die längste Zeit waren die Leute gar nicht bei uns im Haus der Klinik.«
    »Wo denn sonst?«, platzte Audrey hastig dazwischen.
    Die Frau senkte den Blick und schwieg. Sie presste die Lippen aufeinander, als hätte sie bereits zuviel gesagt. Leo bemerkte Audreys Unruhe. Sie versetzte ihr heimlich einen Stoß mit dem Knie und wartete, doch die Wirtin blieb stumm. Leo spürte, dass sie dem Geheimnis näher war als je zuvor. Diese Meta war eine ehrliche, einfache und gewissenhafte Person, schätzte sie. Kaum vorstellbar, dass sie direkt mit einem

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