Natürliche Selektion (German Edition)
jeder Zahnlücke Platz.«
»Gut, dass du deinen Humor noch nicht verloren hast. Hilft gegen Altersdepression.«
Kaum hatten sie die niedrige Gaststube im Eckhaus neben dem Tor zur Brücke betreten, warf Audrey ihr einen Blick zu, den sie sofort verstand. »Ich auch«, nickte sie. Es duftete so herrlich aus der Küche, dass sich beide sofort in die Speisekarte vertieften, nachdem sie einen freien Tisch auf der Terrasse gefunden hatten.
»Ich kann Ihnen die Truite bleu sehr empfehlen. Die Bachforellen sind vor ein paar Minuten ein Stück weiter oben im Doubs gefangen worden«, sagte eine samtweiche, dunkle Frauenstimme. Leo schaute auf und blickte in Metas Gesicht. Sie erbleichte, verschluckte sich vor Schreck, musste husten. Die strahlende, junge Schönheit vor ihr entsprach so genau dem Bild, das die Männer auf ihrer Couch gezeichnet hatten, dass sie ihr wie ein Gespenst aus der Vergangenheit erschien.
»Was hast du?«, fragte Audrey besorgt.
»Nichts – es ist nichts, Entschuldigung.« Sie konnte kein Auge von der wunderbaren Erscheinung lassen. »Ich nehme die Truite bleu«, sagte sie, ohne einen weiteren Blick auf die Karte.
»Was war denn das?«, wunderte sich Audrey, als sie wieder allein waren.
»Hast du’s nicht bemerkt? Das war unsere Meta!«, platzte Leo heraus, immer noch erregt von der Begegnung. »Alles stimmt: die Augen, der Mund, der schlanke Körper, sogar die Frisur und das Alter. Alles genauso, wie die Männer sie beschrieben haben. Unheimlich.«
Audrey lächelte erleichtert. »Sie muss ihre Tochter sein«, bemerkte sie unnötigerweise. »Die Reise war vielleicht doch nicht umsonst.«
Ihr Wein wurde gereicht. Leo hob das Glas und stieß mit ihrer Tochter an. »Wir werden sie kriegen«, murmelte sie nach dem ersten Schluck vom kühlen Gamay Blanc. »Wir geben nicht auf, versprochen?«
Audrey nickte. »Ich stecke schon zu tief mit drin, um aufzugeben. Was sagt eigentlich dein Anwalt zu den gefälschten Fotos?«
»Der hat sich noch mehr gefreut als ich. Er wird die Zeitung melken, bis nichts mehr rauskommt, hat er gemeint.«
»Kunststück freut er sich, bei seiner Provision. Wie viel bekommt er?«
»Fünfzig Prozent.«
»Halsabschneider!«
»Ist mir egal. Von mir aus könnte er alles behalten. Das Geld interessiert mich nicht. Ich will nur eine Richtigstellung in gleich großen Lettern, und nicht im Kleingedruckten.«
»Wie nobel«, spottete Audrey.
Sie aßen eine Weile schweigend. Der Fisch mundete fabelhaft. Kurz gekocht in würziger Bouillon, serviert mit etwas geschmolzener Butter, die man mit Zitronensaft verfeinert hatte, dazu ein paar Salzkartoffeln und ein grüner Salat. Ein einfaches Gericht, das den kräftigen Geschmack der Forelle erst richtig zur Geltung brachte. Kein Vergleich mit der Massenware aus der Zucht. Die Gaumenfreude wärmte sie von innen wie das laue Lüftchen, das von der Brücke herüberwehte, wohltuend über ihre Haut strich. Am Morgen hatte es wohl auch hier geregnet. Vielleicht war deshalb das Wasser des Doubs angeschwollen und rauschte wie ein wilder Bergbach.
Die Teller waren abgeräumt, die junge Meta brachte den Kaffee. Es wurde Zeit zu handeln. »Sagen Sie, Mademoiselle, wäre es möglich, ihre Mutter zu sprechen?«, fragte sie freundlich.
Die junge Frau erschrak. »Ist etwas nicht in Ordnung?«
»Nein, keine Sorge«, lächelte Leo. »Wir haben nur ein paar Fragen, die Ihre Mutter vielleicht beantworten kann.«
Die Frau atmete sichtbar auf. »Ach so, ich werde nachsehen. Sie ist noch in der Küche.«
»Sie ist eine ausgezeichnete Köchin«, rief Leo ihr nach, doch sie war schon im Haus.
»Soll ich mit ihr reden?«, schlug Audrey vor.
»Nein, auf keinen Fall. Und lass ja deine Polizeimarke stecken.«
»Wie du meinst.«
Sie blickten beide unverwandt auf die offene Tür zur Gaststube und warteten, jede auf ihre Art gereizt, auf die Frau, die endlich das Geheimnis entschlüsseln sollte. Sie erschien in einer blütenweißen Küchenschürze. Ihre Rundungen waren etwas ausgeprägter als die ihrer Tochter, und den Blondschopf hatte sie zu einem Knoten gebunden, aber sonst glich sie der jungen Meta aufs Haar. Die Frauen standen auf zur Begrüßung. Leo wiederholte ihr Kompliment an die Küche, dann redete sie nicht länger um den heißen Brei herum. Sie zog ein Bild Michels aus der Tasche, zeigte es der Wirtin und sagte: »Es muss etwa zehn Jahre her sein. Erinnern Sie sich an diesen Mann? Damals sah er natürlich noch etwas jünger aus.«
Die Frau
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