Natürliche Selektion (German Edition)
Verbrechen zu tun hatte, aber sie musste etwas Entscheidendes wissen.
Leo versuchte es mit Empathie. Sie nahm Michels Foto in die Hand und betrachtete es, scheinbar in Gedanken versunken. Nach einer Weile flüsterte sie gerade laut genug, dass die Wirtin es hörte: »Wir waren ein Paar, Michel und ich.«
Meta nickte ernst. »Das habe ich gedacht. Tut mir leid für Sie.« Nach kurzem Zögern sagte sie tonlos: »Sie waren die meiste Zeit in der Kammer.«
Die Kammer! Das Wort dröhnte durch Leos Schädel, als hätte es ihr die Wirtin ins Gesicht geschrien. Sie fixierte Audrey mit strengem Blick und zählte innerlich langsam bis drei, um ruhig antworten zu können. »Die Kammer«, wiederholte sie. »Das war eine spezielle Therapie, nehme ich an?«
»Therapiezellen«, bestätigte Meta. »Isolierte Räume für die Nachbehandlung von Traumata, hat man uns gesagt. Wir Schwestern hatten selbst nichts damit zu tun. Man hat stets ein großes Geheimnis um diese Kammer gemacht.«
»Wissen Sie, wo sich diese Kammer befindet?« Leo stellte die Frage ruhig, aber im Geiste flehte sie inständig, Meta möge die richtige Antwort geben. Sie wagte kaum zu atmen.
»Im Mont Terri«, antwortete die Wirtin ohne Zögern.
Die richtige Antwort. Leo stöhnte leise auf. Audrey breitete grinsend die Straßenkarte aus, die sie in weiser Voraussicht eingesteckt hatte. »Ist das hier in der Gegend?«, fragte sie, während sie das kleine St. Ursanne suchte.
»Sie sind wahrscheinlich daran vorbeigefahren«, sagte Meta und zeigte mit dem Finger auf die Stelle.
Audrey traute der Wirtin nicht. Ihr Instinkt sagte ihr, dass die Frau etwas verschwieg. Sie wussten nun zwar, wo die geheimnisvolle Kammer lag oder gelegen haben musste, aber sie nahm ihr nicht ab, keine Ahnung zu haben, wie man dorthin gelangte. Sie konnte sich auch nur schlecht vorstellen, dass sie nichts weiter über diesen Colonel wusste. Leo und sie hatten noch einige Zeit versucht, mehr zu erfahren, aber es war nichts mehr aus der Wirtin herauszuholen.
Sie gähnte und streckte sich, blickte vom Bildschirm ihres Laptops auf, zwischen den Spitzenvorhängen hindurch zum Fenster hinaus auf die gepflasterte Strasse vor dem Hotel. Ein Trupp Radfahrer in ihren unvermeidlich grellen, viel zu engen Hosen mit rot-weiß bepinselten toten Schildkröten auf den Köpfen schoss schweigend aus dem Torbogen ins Städtchen hinein. Drei, vier kräftige Tritte, schon waren sie um die Kurve verschwunden. Auch eine Art, die Zeit totzuschlagen , dachte Audrey mit sauertöpfischer Miene. Sie wartete seit geschlagenen zwei Stunden auf Isaacs Antwort. Nicht zum ersten Mal verwünschte sie die strikten Sicherheitsregeln ihrer Organisation. Es gab schlicht keine Möglichkeit, die wichtigen Datenbanken von außen anzuzapfen. Das ging nur indirekt mit Hilfe einer zweiten Person hinter der Firewall.
Leo klappte ihr Buch zu und schaute vom Sofa zu ihr herüber. »Nichts?«, fragte sie leise.
Audrey schüttelte den Kopf. »Sieht ganz danach aus, dass nicht viel bei der Suche herauskommt. Ich fürchte, die Antwort wäre längst da, wenn er was gefunden hätte.« Isaac durchforstete auf ihre Bitte die Datenbanken nach Namen und Adressen von Leuten, die etwas mit dieser Kammer im Mont Terri zu tun haben könnten.
Ein paar Minuten später riss sie der Klingelton ihres Telefons gleichzeitig mit dem Piepser für neue Mail aus ihren Gedanken.
»Tut mir leid, Audrey«, grüßte ihr Kollege. »Ich habe alles geschickt, was ich finden konnte, und das ist verflucht wenig. Wenn nicht du nach dieser Kammer gefragt hättest, würde ich sagen, sie ist nichts weiter als ein Hirngespinst.«
Audrey hörte schweigend zu. Während er weitersprach, öffnete sie die Nachricht und überflog die vielen Anhänge. Wie nicht anders erwartet, hatte Isaac gründlich gearbeitet. Nach der Lektüre seiner Mail würde sie alles über das ›Mont Terri Projekt‹ wissen und trotzdem dieser verhexten Kammer keinen Schritt näher sein. »Mont Terri Projekt. Hat das etwas mit der Klinik zu tun?«, fragte sie mürrisch.
»Nein, jedenfalls habe ich nichts in dieser Richtung festgestellt. Der Berg hinter eurem Kaff heißt Mont Terri. Darin befindet sich ein riesiges Tunnelsystem, unter anderem auch der Autobahntunnel, durch den ihr angereist seid. Wie du in den Unterlagen siehst, sind dort vor allem Geologen aus der ganzen Welt am Werk. Sie untersuchen in Langzeitstudien, ob und welche Gesteinsschichten sich für die Endlagerung radioaktiver
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