Natürliche Selektion (German Edition)
Glücklicherweise schienen sie kein Französisch zu verstehen.
Fabre brauchte die Speisekarte nicht. Seine Lieblingsgerichte kannte er und dabei blieb er. »Ich kann Ihnen die Cassolette sehr empfehlen, Madame. Die Schnecken an Petersiliebutter sind die besten außerhalb Colmar und Straßburg.«
»Das glaube ich Ihnen gern«, schmunzelte sie, »aber ich halte mich lieber ans Futter der Tierchen.« Sie konnte Schnecken nicht leiden. Die fraßen ihr geliebtes Gemüse. Die Tarte à l’oignon schien ihr die richtige Wahl für dieses Gespräch. »Nun, Professor, Sie wollten doch sicher nicht nur mit mir über Kleidung und Essen reden«, sagte sie nach einem Schluck aus ihrem Wasserglas.
»Natürlich. Ich bin froh, dass wir uns in Ruhe unterhalten können, nach all den traurigen Ereignissen. Michel und seine Freunde, jetzt auch noch Ihr Bruch mit der alten Salpêtrière. Das alles tut mir sehr leid für Sie.«
»Quelle pitié«, lächelte sie ironisch. »Das mit dem Bruch haben Sie schön umschrieben, aber es braucht Ihnen nicht leid zu tun. Es war ohnehin Zeit, mich zu verändern.«
»Gut, dass Sie es so sehen. Genau darüber wollte ich mit Ihnen reden. Sie wissen vielleicht, dass ich im Verwaltungsrat der Groupe Résidences sitze. Die Gruppe betreibt fünf renommierte und sehr exklusive Privatkliniken in Frankreich.«
»Ich habe davon gehört.«
»Selbstverständlich. Unsere Zentren für Trauma-Behandlung sind Ihnen natürlich bekannt. Ich will Sie nicht lange hinhalten. Die Klinik in Aix-en-provence braucht einen neuen medizinischen Leiter, oder eine Chefin. Sie wären die ideale Besetzung, Dr. Bruno.«
Sie sah so etwas kommen, und doch stutzte sie ob seiner konkreten Offerte. »Provence«, murmelte sie in Gedanken versunken. »Ist die Gegend nicht viel zu schön, um dort zu arbeiten?«
»Da mögen Sie recht haben«, lachte er. »Allerdings ist der Betrieb in unserer Klinik nicht zu vergleichen mit der Salpêtrière.« Er schilderte das Angebot in den rosigsten Pastelltönen und so detailliert, als zitierte er aus dem fertig ausgearbeiteten Vertrag.
Leo unterbrach ihn nicht, obwohl sie wusste, dass sie ablehnen würde. In den Jahrzehnten, die sie hier gewohnt und gearbeitet hatte, war sie zur eingefleischten Pariserin geworden. Sie konnte sich schlicht nicht mehr vorstellen, an einem anderen Ort zu leben. Und von Kliniken jeder Art hatte sie ohnehin genug.
»Nun, wie hört sich das an?«, fragte er gespannt nach seinem Werbespot.
Sie wiegte den Kopf, als fiele ihr die Entscheidung außerordentlich schwer. »Ich weiß nicht, Professor. Die Offerte kommt etwas überraschend. Ich habe mich noch gar nicht an den Gedanken gewöhnt, frei zu sein. Wenn ich ehrlich sein soll, möchte ich diese neue Freiheit noch eine Weile auskosten. Aber Ihr Angebot ehrt mich, und ich werde es mir sehr genau überlegen.«
Er verstand es gut, seine Enttäuschung hinter verständnisvollem Lächeln zu verbergen, aber sie ließ sich nicht täuschen. Er gehörte zu den Menschen, denen man normalerweise nicht widersprach.
»Das verstehe ich sehr gut, Madame. Entschuldigen Sie, dass ich Sie mit meinem Vorschlag überfallen habe, aber ich bin überzeugt, dass Ihnen unsere Résidence sehr gut gefallen würde. Überlegen Sie sich die Sache in Ruhe.«
»Wie viel Zeit habe ich?«
»Einen Monat.« Die Antwort kam ohne Zögern.
Sie fragte sich, was mit der derzeitigen Leitung in Aix los war, behielt die Frage aber lieber für sich. Sie aß die letzten Bissen des luftigen Zwiebelkuchens. Kaum hatten sie die Teller geleert, räumte der magere Kellner, eine Bohnenstange in weißer Schürze, das Geschirr ab und brachte den unvermeidlichen Kaffee.
Der Professor nippte an der Tasse, dann fragte er beiläufig: »Was gedenken Sie nun mit Ihrer Freiheit zu unternehmen, wenn Sie die Frage gestatten?«
Auf dieses Thema war sie vorbereitet. »Weiterbildung«, antwortete sie unverzüglich. Sie mochte ihn nicht mit den Einzelheiten ihrer mühsamen Suche nach der Wahrheit langweilen, aber seine phänomenalen Kenntnisse der Pharmaindustrie konnten nützlich sein.
»Haben Sie das denn nötig?«, scherzte er.
»Vor allem blieb mir bisher zu wenig Zeit dazu. Ich möchte mich vertieft mit den neusten Therapien und Medikamenten für die Behandlung seelischer Traumata auseinandersetzen. Dazu werde ich wohl einige Reisen unternehmen.«
Ein spöttisches Lächeln umspielte seinen Mund. »Reisen Sie in meine Vorlesung«, schlug er vor. »Aber Scherz beiseite.
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