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Natürliche Selektion (German Edition)

Natürliche Selektion (German Edition)

Titel: Natürliche Selektion (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H. J. Anderegg
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die Präparate aus der Kammer herausgefunden?«, fragte sie, ohne sich auf die Polemik ihrer Tochter einzulassen.
    »Du hattest recht. Unsere Kriminaltechniker bestätigen, dass es sich um Varianten der Probe handelt, die Michel diesem Lombardi geschickt hat. Wir stehen im Kontakt mit seinem Institut. Die Venezianer glauben jetzt auch mehr zu wissen über die Funktion der Substanz. Ich schicke dir den Bericht per Mail.«
    Leo mochte nicht auf den schriftlichen Bericht warten. »Nun sag schon, was wissen die Italiener Neues?«, drängte sie.
    »Ich bin keine Ärztin oder Neurologin, wie du dich vielleicht erinnerst. Ich verstand nur soviel, dass die RNA nicht nur dieses komische Gen verstärkt ...«
    »NR2B, das Gen für Lernen und Gedächtnis.«
    »Ja, wie auch immer. Also, sie wirkt nicht nur bei diesem Gen, sondern sie beeinflusst auch die Fähigkeit, Informationen zu filtern.«
    »Sinneseindrücke zu filtern, meinst du?«
    »Genau. Die schreiben, dass das Gehirn mit dieser Substanz bewusst Filter ein- und ausschalten kann. Ich habe das so verstanden, als könntest du bei Bedarf ein Bild entweder als fertiges Muster wahrnehmen oder nur die einzelnen Pixel, oder etwas dazwischen.«
    Leo pfiff leise durch die Zähne. Als Laie realisierte Audrey wahrscheinlich nicht, was das für die Betroffenen bedeutete. »Weißt du, was du da sagst?«, antwortete sie erregt. »Ein Mensch mit solchen Fähigkeiten ist zu intellektuellen Spitzenleistungen fähig, wie man sie von den Savants kennt.«
    »Savants?«
    »So nennen wir Leute wie Kim Peck aus Salt Lake City, der tausende von Büchern auswendig kennt. Oder Leslie Lemke, der ohne Klavierunterricht ganze Konzerte auswendig spielt, nachdem er sie am Radio gehört hat. Daniel Tammet kann die größten Zahlen im Kopf multiplizieren, schneller als mit einem Taschenrechner. Auf der Welt gibt’s nur etwa fünfzig solcher Savants.«
    »Wie ›Rainman‹«, sagte Audrey gedehnt. »Der Film mit Dustin Hoffmann, weißt du?«
    »Ja, genau. Dieser Rainman war auch so ein Genie.«
    »Und behindert, ein Autist.«
    »Die meisten dieser Savants leiden unter einer Form von Autismus. Aber die Substanz, mit der sie Michel und die andern behandelt haben, scheint gesunden Menschen die besonderen Fähigkeiten der Savants zu verleihen – wenigstens vorübergehend, für einige Jahre, wie sich gezeigt hat.« Ihre Stimme bebte merklich bei den letzten Worten, und Audrey reagierte sofort:
    »Tut mir leid, Maman, ich wollte nicht ...«
    »Schon gut«, unterbrach sie. »Es hilft nichts, ich muss mich mit den Tatsachen abfinden.« Sie brauchte einen Augenblick, sich zu fangen, dann fragte sie: »Was wisst ihr über das unbekannte Medikament von RDC?«
    »Ziemlich interessant: es dient der Nachbehandlung von Traumata. RDC hat es vor zwölf Jahren auf Puerto Rico für die US-Army produziert. Sie haben dort Soldaten behandelt, die aus Irak und Afghanistan zurückgekehrt sind. Spannend daran ist, dass das Medikament die Insel offiziell nie verlassen hat. Es wurde nie international freigegeben. Es gibt zudem Hinweise auf einen Skandal, der ziemlich genau in die Zeit fällt, als die Pille wieder verschwand.«
    Leo horchte auf. »Was ist damals geschehen?«
    »Wir wissen es nicht. RDC hat alles gründlich unter den Teppich gekehrt, wahrscheinlich mit großzügiger Hilfe der Armee.«
    »Fragen wir sie«, sagte Leo entschlossen.
    »Dachte ich auch. Wir brauchen nur noch einen plausiblen Vorwand, um dort zu schnüffeln.«
    »Keine Sorge, mir fällt schon etwas ein.«
Île Saint-Louis, Paris
    Leo hatte gezögert, der Einladung des Professors zu folgen. Sie fürchtete allzu schmerzliche Erinnerungen bei der Begegnung mit Michels Mentor und Ersatzvater. Nun saß sie ihm trotzdem gegenüber in seinem Lieblingsbistro auf der Île Saint-Louis. Wie nicht anders zu erwarten beim bekannten und beliebten Professor Damien Fabre, war es das beste Lokal der Gegend, wenn man elsässische Küche mochte. Nach der Karte zu urteilen, gehörte es auch zu den teuersten am Platz, und das wollte etwas heißen in Paris. Es war jedenfalls keines der Restaurants, wo die Kellner um Klassen besser gekleidet waren als die Gäste. Mit Ausnahmen. Der Professor warf einer Gruppe neu eintretender Männer giftige Blicke zu und knurrte gefährlich laut:
    »Müssen sehr beschäftigt sein, die Herren. Hatten keine Zeit, sich umzuziehen.«
    Leo stimmte ihm zu. Die groben Kerle sahen wirklich aus, als kämen sie geradewegs vom Eisfischen – im Juni.

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