Natürliche Selektion (German Edition)
er mit dem Kinn auf ihre Tasche. »Dein Telefon.«
»Monsieur le directeur«, seufzte sie nach einem Blick auf das Display. Sie hörte ihrem Chef für kurze Zeit zu, ohne ein Wort zu sagen, dann legte sie auf und entfernte sich mit einer gemurmelten Entschuldigung.
Der Direktor empfing sie mit ernster, aber nicht unfreundlicher Miene. Eher besorgt blickte er sie an. »Ich möchte unter keinen Umständen gestört werden«, schärfte er seiner Vorzimmerdame ein und schloss die Tür.
»Dr. Bruno, ich will offen zu Ihnen sein. Ich mache mir große Sorgen um Sie.«
Die Eröffnung überraschte Leo. »Sorgen? Wie muss ich das verstehen?«
»Diese – Sache mit der Zeitung ...«
»Die Lügen meinen Sie.«
Er nickte nervös. »Die scheinen Sie doch mehr zu beanspruchen als ich befürchtet habe.« Er wartete auf eine Antwort, doch sie schaute ihn nur unverwandt an, bis er den Blick senkte und fortfuhr: »Ihre Abwesenheiten häufen sich in letzter Zeit, und ...« Wieder zögerte er. Sie wartete. »Und Sie benutzen offenbar die Praxis für private Zwecke, wie ich höre.«
Gut, dass Edmond sie gewarnt hatte. Sie blieb ruhig, fragte ganz sachlich: »Wer behauptet so etwas?«
Statt zu antworten, schob er ihr ein Blatt Papier hin, auf dem die Namen der drei Männer standen, die sie unter Hypnose befragt hatte, zusammen mit den genauen Zeiten ihres Aufenthalts in der Salpêtrière.
»Gute Arbeit«, murmelte sie. Jemand gab sich offensichtlich Mühe, sie zu überwachen. Sie glaubte auch zu wissen, wer dahintersteckte, aber sie schwieg. Sie hatte beschlossen, sich nicht provozieren zu lassen, fragte lediglich: »Was werfen Sie mir eigentlich vor, Monsieur le directeur?«
»Vorwerfen!«, platzte er heraus. »Ein hartes Wort. Ich frage mich lediglich, was das alles zu bedeuten hat, Docteur.«
»Was diese Männer betrifft«, antwortete sie, »das war pro bono Arbeit während meiner Freizeit.« Nur die halbe Wahrheit, aber plausibel. Es war nicht das erste Mal, dass sie Konsultationen ehrenamtlich durchführte, ohne Bezahlung. »Im übrigen haben Sie recht. Es dauert tatsächlich länger, bis die Anwälte der Zeitung begriffen haben, dass sie nicht gewinnen können.«
»Sehen Sie, deshalb glaube ich, dass sie eine Pause brauchen, Docteur. Ich möchte, dass Sie ein paar Wochen Urlaub nehmen. Glauben Sie mir, es ist das Beste für alle.«
Jetzt war es raus. ›Ein paar Wochen Urlaub‹ konnte man auch mit einem Wort umschreiben: kaltstellen. Sie brauchte nicht zu fragen. Der Direktor war ein gewissenhafter Mann. Organigramm und Einsatzpläne für die Zeit ihrer Abwesenheit lagen zweifellos in seiner Schublade bereit. Wahrscheinlich wartete die Informationsmail an alle geschätzten Mitarbeiter nur noch auf seinen Mausklick. Er hatte entschieden. Vielleicht verdankte sie es dem Ärger über seine falsche Sorge, vielleicht der plötzlichen Erinnerung an Michels warme, braune Augen, dass ihr Entschluss in dieser Sekunde reifte. Mit einem Mal war es ganz einfach, diese Kriegsfront zu schließen, dachte sie erleichtert. Sie erhob sich lächelnd und sagte: »Ich überlege es mir, Monsieur le directeur.«
Unterwegs zum Büro rief sie Edmond an. Er war der Einzige, den sie persönlich informieren wollte. Die andern würden die Nachricht bald in ihrer Mailbox finden. Ihre Kündigung war schnell geschrieben, ebenso die kurze Mail an die Mitarbeiter. Die ehrwürdige Institution der Pitié-Salpêtrière war sie los, nur kaltstellen ließ sie sich nicht. Als sie an diesem Nachmittag die Klinik verließ, atmete sie freier, wie ein Allergiker nach der Pollensaison, und trotzdem schmerzte sie der Schritt in die neue Freiheit. Es war, als nähme sie nochmals Abschied von Michel.
Der Anruf nach Lyon fiel ihr leichter als das Gespräch mit Edmond. Es dauerte zwar eine Weile, bis sie Audrey überzeugt hatte, dass ihre Kündigung keine Kurzschlusshandlung war, aber schließlich sah sie ein, warum es so nicht weitergehen konnte. »Nun kann ich mich ganz auf die eine Sache konzentrieren«, fasste Leo die neue Situation zusammen.
»Das kann allerdings nicht schaden«, meinte Audrey. »Wir haben noch keinen konkreten Hinweis auf die Identität des Colonel. Bevor wir wissen, wer sich hinter dem Pseudonym versteckt, wird keine Anklage erhoben. So läuft das nun mal im Justizministerium.«
»Also suchen wir ihn.«
Audrey lachte. »Klar, nichts leichter als das. Interpol tappt im Dunkeln, und wir zwei zaubern ihn aus dem Hut.«
»Was habt ihr über
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