Nauraka - Volk der Tiefe
hatte.
»Lass mich los!«, schrie der Junge. »Ich hab nichts getan!« Er mochte nicht mehr als zehn Korallenringe zählen. Seine Kleidung war sehr nachlässig, wies sogar Löcher auf, die dünnen Arme waren unbekleidet, was Eri alles missbilligend zur Kenntnis nahm.
Ein Nauraka mittleren Alters in der Tracht der Essenshändler näherte sich. »Der Korb! Er hat ihn mir gestohlen!«
»Stimmt das?«, fragte Eri den Jungen.
»Ich hab mir nur genommen, was uns zusteht!«, verteidigte sich der Junge.
»Frech ist er auch noch!«, rief der Händler empört. »Na warte, du Bengel, die Strafe wird dir nicht gefallen!« Er wollte nach dem Kind greifen, aber Eri hob warnend die Hand.
»Langsam. Zuerst klären wir diese Angelegenheit. Was wird mit ihm geschehen?«
»Was mit allen Dieben geschieht!«, zischte der Händler, seine weit geblähten Kiemen waren blutrot. Eri schmeckte Angriffslust im Wasser, die auch die Zuschauer aufstachelte.
»Schlag ihm die Hände ab!«, forderten welche, die gar keine Nauraka waren.
»Blende ihn!«
»Verjag ihn aus Darystis!«
Der Junge fing an zu zittern, und er gab die Gegenwehr auf. Seine Haut wurde fahl wie ein toter Fisch. Er bangte um sein Leben, und das zu recht.
»Es ist nur ein Fischkorb«, sagte Eri verständnislos. »Warum soll er ihn nicht bekommen?«
»Weil er nicht dazu berechtigt ist!«, stieß der Händler in einem Schwall Luftblasen hervor.
»Er ist ein Nauraka.« Er sah den Jungen an. »Bist du von hier?«
Das Kind nickte.
»Also, wo ist das Problem?«, fragte Eri. »Er ist ein Darystis, und per Dekret ist der Hochfürst verpflichtet, Nahrung für sein Volk zu stellen. Der Junge wirkt hungrig auf mich. Gib ihm den Korb, Händler, es ist seiner.«
Die Nicht-Nauraka unter den Zuschauern wirkten erstaunt. Dann verloren sie das Interesse und schwammen weiter. Die Nauraka verstreuten sich ebenfalls, für sie schien der Fall erledigt. Es würde heute wohl keine öffentliche Folter oder gar Hinrichtung geben, da wandte man sich doch spannenderen Dingen zu.
Der Händler allerdings gab nicht so leicht auf. »Und wer will mir das vorschreiben?«
»Prinz Erenwin von Darystis, Sohn des Hochfürsten Ragdur«, antwortete Eri ruhig.
Der Junge bekam kugelrunde Augen. Der Händler wich zurück und vollzog dann den Ritus des Untertanengrußes, verbunden mit der Bitte um Verzeihung.
»Er gehört Euch, ehrenwerter Prinz«, sagte der Händler und wies auf den Korb. »Verfahrt mit ihm, wie Ihr es wünscht.« Nach einer weiteren Verbeugung kehrte er zu seinen Waren zurück.
Eris Kiemen klapperten. Was hatte er da gerade getan? In solche Dinge hatte er sich noch nie eingemischt; er hatte gehandelt ohne nachzudenken. Ihm war, als hörte er ein befriedigtes Wispern in seinem Innern. Verunsichert schüttelte er den Kopf.
Der Junge holte ihn rasch wieder in die Realität zurück. »Willst du mich nicht endlich loslassen?«, beschwerte er sich und fing wieder an, zu zerren.
Mit einem schnellen Griff der freien Hand entriss Eri ihm den Fischkorb, dann ließ er ihn los.
»Gib ihn mir!«, schrie der Junge und angelte nach dem Korb, aber Eri schob ihn von sich.
»Zuerst erklärst du mir mal, was das alles zu bedeuten hat. Wieso bezichtigt dich der Händler des Diebstahls? Und wieso bist du so nachlässig gekleidet?«
Wut funkelte in den dunkelblauen Augen des Jungen. »Als ob du das nicht wüsstest, du feiner Herr!«
»Sei nicht so respektlos«, mahnte Eri. »Ich frage mich, ob du überhaupt ein Nauraka bist, bei so schlechtem Benehmen und Zustand.«
»Ich bin gezeichnet, deswegen!«, fauchte der Junge. Er hob den nackten Arm, wo knapp unter der Achsel ein großes Brandzeichen angebracht war. Eine Sichellanze, gekreuzt mit einem Schwert. Das Wappen der Darystis.
Eri war sprachlos. So wurden bei den Nauraka nur Zuchttiere gebrandmarkt. Nicht einmal Dullo trug so ein Zeichen. Bei anderen Völkern, die Sklavenhaltung betrieben, hatte er auch schon solche Male gesehen. Aber niemals bei seinem Volk … »Was … hat man dir angetan?«
»Ich muss für die Verbrechen meines Vaters büßen«, brach es aus dem Jungen hervor. »Weil er mein Vater ist, gehöre ich nicht mehr hierher in die oberen Schichten, sondern muss in der Unterstadt leben!«
»Langsam, langsam«, stammelte Eri und hob die Hand. »Wovon sprichst du, ich verstehe nicht … was für eine Unterstadt? Und wessen wurde dein Vater beschuldigt, dass du ebenfalls gebrandmarkt wirst?«
»Komm doch mit, wenn du mir nicht
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