Nauraka - Volk der Tiefe
sah er den Jungen an. »Du schuldest mir was! Mein Leben gegen deines!«
»Darauf geben wir hier nichts«, schnappte der Vater und zückte ein rostiges Messer.
»Dann hat mein Vater euch zu Recht verbannt!«, schrie Eri verzweifelt. Die ersten streckten schon die Hände nach ihm aus. Sie würden ihn in tausend Stücke reißen.
»Wartet!«, rief da der Junge, und tatsächlich hielten sie noch einmal inne. »Vater, du selbst hast mir immer gesagt, das Letzte, was uns geblieben ist, sei unsere Ehre, und die würden wir nicht hergeben. Niemand kann sie uns nehmen, egal, mit wie vielen Zeichen sie uns brandmarken. Das hast du gesagt!«
»Ich weiß, was ich gesagt habe! Hör auf, mir …«
»Ich gebe meine Ehre nicht her! Der Prinz hat mir das Leben gerettet, das ist wahr, und er hat mir den Fischkorb gegeben, damit ich ihn dir bringen kann! Das schulde ich ihm!«
Sein Vater zögerte. Als dies den anderen zu lange dauerte, wollten sie sich auf Eri stürzen, doch der Mann hielt sie auf. »Nein!«
»Du wirst doch wohl nicht auf deinen Bengel hören?«, beschwerte sich der einäugige Nauraka.
»Er hat recht«, sagte der Mann. »Verflucht sollen seine Gedankengänge sein, aber er hat recht.« Er ließ die Hand mit dem Messer sinken. »Verlass uns, Prinz. Und schnell.«
Eri zögerte keinen Herzschlag lang. Pfeilschnell schoss er nach oben, aus dem Pulk heraus, wand sich durch das Labyrinth zwischen den engen Felsen hindurch. Er hatte sich den Weg hierher gemerkt und keine Schwierigkeiten, wieder hinauszufinden. Bald hörte er wütendes Geschrei und Geheul hinter sich, und dann wusste er, dass sie zur Jagd nach ihm aufgebrochen waren. Der Mann hatte ihm nur einen kurzen Vorsprung verschafft, um der Ehre seines Sohnes Genüge zu tun. Doch nun musste Eri schneller sein als sie. Er war jung und gut genährt, doch sie wurden von Hass und Verzweiflung angetrieben. Wer würde wohl mehr Kraft aufbringen?
Eri sauste aus der Unterstadt hinaus und merkte, wie sehr ihm das Wasser hier zu schaffen machte. Ihm war schwindlig und übel, seine Kiemen pumpten hektisch, und doch hatte er Atemnot. Seine Verfolger, die daran gewöhnt waren, kamen rasch näher. Er konnte sie unter sich sehen, dunkle Schatten im trüben Dämmer. Sie warfen Speere nach ihm, doch sie reichten noch nicht weit genug.
Der Prinz schwamm um sein Leben. Die Arme eng an den Körper gepresst, verließ er sich auf seine Beinarbeit und wandte Techniken an, die er Dullo abgeschaut hatte.
Er wünschte sich, sein Seeschwärmer wäre hier. Doch Ragdur hatte verboten, diese unberechenbaren Fische mit auf den Markt zu nehmen, was verständlich war. Doch in einem solchen Moment wäre sein Schwimmtier genau der richtige Begleiter gewesen.
Der Abstand zu den Verfolgern wurde kürzer. Sie schienen zu allem entschlossen zu sein, doch auch seine Kräfte waren noch nicht erlahmt. Eri hatte das Freiwasser erreicht und steuerte direkt auf den Markt zu. Dort, unter den vielen Leuten, war er in Sicherheit. Die Verbannten würden nicht wagen, ihn anzugreifen.
»Stell dich uns endlich!«, rief der Vater des jungen Diebes. »Du kannst nicht mehr entkommen!«
Doch da hatte er bereits die Schutzzone überschwommen. Zum ersten Mal in seinem Leben war Eri froh, die Wachen seines Vaters zu sehen, die plötzlich von allen Seiten auf ihn zukamen, an ihm vorbeischwammen, und die Waffen gegen die Verfolger zogen.
»Schwimmt weiter zum Markt, Prinz!«, rief einer von ihnen. »Wir erledigen das.«
Das ließ Eri innehalten. Wie war das gemeint? Er warf sich herum und sauste zurück. »Halt!«, rief er und packte den Arm eines Wächters, der mit dem Speer auf den vordersten Verfolger zielte, den erbosten Vater. »Haltet an, alle! Ich bitte euch!«
Überrascht hielten Wachen und Verfolger inne, als Eri zwischen die beiden Fronten schwamm und die Arme zu beiden Seiten hob. »Ihr, Verbannte, schwimmt zurück in eure Heimstatt!«, fuhr Eri fort. »Und ihr, Wachen, lasst sie ziehen und kommt mit mir.«
Die Verfolger zögerten misstrauisch. Der Wächter knurrte: »Unmöglich, Prinz. Es ist unsere Aufgabe …«
»… zu schützen!«, unterbrach Eri. »Aber mir ist nichts geschehen. Euer beherztes Eingreifen hat mich außer Gefahr gebracht. Ich bin in Sicherheit.«
»Aber sie müssen bestraft werden …«
»Wofür? Sie haben nichts getan! Es war meine Schuld, dass ich die Grenze zu ihrem Gebiet überschwommen habe.« Der Prinz wandte sich dem Anführer der Verbannten zu. »Verschwindet, schnell!
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