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Nayidenmond (German Edition)

Nayidenmond (German Edition)

Titel: Nayidenmond (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sandra Gernt
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dachte er, wütend auf sich selbst. Hätte nicht viel gefehlt, und ich hätte ihn möglicherweise genommen, ohne es verhindern zu können. Vermutlich würde er sich noch nicht einmal dagegen wehren, weil er mir vertrauen muss, vertrauen will, um nicht abzustürzen. Keuchend lehnte er sich gegen einen Baumstamm, konzentrierte sich ausschließlich auf seine Atmung, bis er den Sturm, der in seinem Inneren tobte, besiegt hatte.
    „Iyen! IYEN!“ Noch bevor der letzte Laut dieses verzweifelten Schreies verklungen war, befand er sich bereits in Bewegung. Mit beiden Kurzschwertern in den Händen sprang er auf die Lichtung, bereit für jeden Feind – doch Rouven war allein. Er lag auf den Knien, die Arme um den Leib geschlungen wippte er mit dem Oberkörper rhythmisch vor und zurück, vor und zurück; dabei schrie er Iyens Namen, blind dafür, dass der bereits bei ihm war. Einen Moment lang blieb Iyen noch wie erstarrt stehen. Dieser Anblick zerriss ihm das Herz, Gefühle, die er nicht benennen konnte, überwältigten ihn. Unfähig zu denken sank er schließlich neben Rouven nieder, hielt ihn an den Schultern fest, um dieses Wippen irgendwie zu unterbinden. Er hatte ein einziges Mal bis jetzt einen Menschen in so einem Zustand erlebt: ein Gefangener, der bis in den Wahnsinn gefoltert worden war. Es war ein Akt der Gnade gewesen, ihn zu töten.
    „Rouven?“, fragte er heiser, als der am ganzen Leib bebende junge Mann zumindest aufhörte zu schreien. Er hatte Angst um ihn, eisige, grausame Angst, Rouven könnte ebenfalls dem Wahnsinn verfallen; auch wenn er nicht begriff, woher diese Fähigkeit, so etwas zu empfinden, rühren mochte. Er konnte sich nicht bewegen, ihn nur ansehen, während er vor ihm kniete und das Blut in seinen Ohren rauschte. Wie von selbst glitt Rouven in seine Arme, drängte sich so fest an ihn, als wolle er mit ihm verschmelzen.
    „Es tut mir so leid“, stammelte er zwischen dem anhaltenden Schluchzen. „Ich dachte, dass du nicht wiederkommst … dachte du bist fort …“
    Iyen konnte ihn kaum verstehen, so stockend presste der Junge diese Silben hervor.
    „Ruhig, ganz ruhig“, flüsterte er ihm unentwegt ins Ohr, wiegte ihn langsam, streichelte ihm über Kopf und Rücken, bis der Anfall vorüber war.
    „Es tut mir so leid“, wiederholte Rouven erschöpft. Er hing halb bewusstlos an Iyens Schulter, die Augen geschlossen; zumindest klang er wieder ruhiger und er schien bei klarem Verstand zu sein.
    „Es ist nicht deine Schuld, du musst dich nicht schämen“, sagte Iyen. „Ich hätte nicht einfach fortgehen dürfen, aber ich hatte nicht bedacht, dass so etwas geschehen könnte.“
    „Du warst plötzlich weg, ich konnte dich nicht sehen und du hattest nichts gesagt, ich wusste eigentlich, du würdest zurückkommen, deine Sachen sind ja noch hier“, strömte es aus Rouven heraus, als hätte jemand einen Riegel gelöst. „Ich dachte … Ich wusste es nicht, ich dachte, du würdest mich hier zurücklassen, aus Absicht, oder weil die beiden anderen dich erwischt haben.“
    „Es ist gut, Rouven, es ist alles gut. Ich lasse dich nicht allein.“ Iyen fühlte sich so unbeholfen. Am liebsten hätte er den Jungen niedergeschlagen, nur damit er endlich aufhörte so wirr zu stammeln, Ruhe herrschte und alles hier ein Ende fand. Genauso sehr wünschte er sich, ein Zauberwort zu kennen, oder einen Satz, den man nur entschieden genug aussprechen musste, um Rouven all sein Leid vergessen zu lassen und ihn wieder in den unbeschwerten jungen Mann zu verwandeln, den er gemeinsam mit Bero und Jarne zwei Tage lang beobachtet hatte. Schon da hatte er ein gewisses Bedauern gefühlt, ein solch lebendiges, fröhliches Geschöpf zu entführen und – vermutlich – töten lassen zu müssen. Rouvens natürliche Anmut, sein Lachen, die Kraft, die er ausstrahlte, wirkte auf seine gesamte Umgebung. Nicht immer positiv, sein sprunghaftes, unstetes Wesen rief auch Missmut hervor. Doch es waren nach Iyens Beobachtung vor allem seine Brüder und sein Vater, die nicht zumindest unbewusst lächelten, wenn Rouven vorbei lief, strahlend und das Leben genießend wie ein kleines Kind. Diese Kraft war nicht vollends verloren, Iyen sah einen Funken dieses vor Kurzem noch so hell lodernden Feuers in seinen Augen glimmen. Es gab kein Zauberwort, das wusste er und schwieg. Er hasste sich selbst dafür, genauso wie die kalte Stimme der Logik, die ihm einflüsterte, es wäre größere Gnade, all dieses Elend zu beenden als Rouven zu

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