Nayidenmond (German Edition)
werden beide getötet, der eine gilt als unfähig, der andere als nicht kampftauglich. Die Verschwendung von Leben interessiert die Ältesten nicht. Egal, wie viele Jahre Ausbildung und Mühe man in die Jungen investiert hat. Nur erwachsene Oshanta haben überhaupt Lebensrecht.“
„Geschieht es oft?“, fragte Rouven entsetzt und fuhr zusammen, als Iyen ihn schon wieder kniff. Wie sollte man ein Gespräch führen, wenn man gar keine Fragen stellen durfte?
„Es geschieht oft, ja“, murmelte Iyen. Seine Augen überschatteten sich vor Zorn, wodurch er so gefährlich wirkte, dass Rouven sich hastig von ihm abwandte. Seine größte Angst war, dass Iyen ihn fortstoßen könnte. Im Moment brauchte er diese Nähe, sich an diesen Mann anzulehnen, war Balsam für seine verwundete Seele. Und vielleicht war es für Iyen ebenfalls gut? Der Oshanta löste sich jedenfalls nicht von ihm, sondern zog ihn wieder dichter an sich heran und streichelte ihm sanft über den Rücken, so behutsam, als könnte Rouven unter zu viel Druck zerbrechen. Auch wenn seine Wunden dadurch brannten, es schenkte ihm Sicherheit … und noch etwas, was er sich nicht eingestehen wollte.
Wie kann jemand, der ein solch kalter, innerlich zerstörter Mörder ist, so viel Wärme geben? Rouven spürte, wie ihm die Gedanken entglitten, und ließ es geschehen. Iyen würde ihn beschützen, das wusste er.
Iyen lächelte traurig, als er spürte, wie sich der Junge entspannte und noch einmal einschlief. Rouven vertraute ihm.
Was bleibt dem Kleinen auch anderes übrig? Iyen wusste, wie gefährlich es war, Rouven noch näher an sich heranzulassen. Der Himmel mochte wissen, warum er ihm all diese Dinge über die Bruderschaft erzählt hatte, Dinge, die niemals für die Ohren eines nicht Entweihten bestimmt gewesen waren. Erst, als er sicher war, dass Rouven tief schlief, stützte er sich auf ähnliche Weise hoch wie der Junge vorhin und betrachtete ihn, wie er nie zuvor einen Menschen angesehen hatte. Wie schön Augenbrauen sein konnten, warum hatte er es noch nie bemerkt? Er fuhr über die sanft geschwungenen Halbmonde, über die hohe Stirn, berührte zaghaft die geschlossenen Lider und die Wimpern. Tiefe dunkle Ringe lagen unter den Augen, Rouven war noch immer so bleich. Doch Iyen hatte erneut die Entschlossenheit in seinem Blick gesehen, sich nicht endgültig zerbrechen zu lassen. Er strich leicht über die Wangen, über die Andeutungen von Bartstoppeln, die sich ein wenig rau anfühlten – Rouven schien noch nicht allzu viel Bartwuchs zu haben, obwohl er dunkelhaarig war. Rouven kräuselte die Nase, anscheinend kitzelte ihn diese Berührung. Iyen beugte sich hinab, küsste sehnsüchtig den Hals des jungen Mannes, von der Kehle hinab zu der kleinen Kuhle am Halsansatz. Ganz sacht, um ihn nicht zu wecken. Er roch den Duft, der zu Rouven gehörte, eine leicht herbe und männliche Note. Rouven seufzte leise, drehte den Kopf von ihm weg. Iyen hätte so gerne noch die Beschaffenheit der Lippen erkundet, aber er beherrschte diesen Impuls und legte sich wieder zurück.
Begehren ist seltsam. Hunger lässt sich stillen, indem man isst. Verlangen nach einem Menschen hingegen scheint nur zu wachsen, wenn man ihm nachgibt. Ich sollte das unterlassen.
In diesem Moment begann Rouven zu zucken, warf sich unruhig hin und her, schrie dann unterdrückt auf. Iyen wollte nach ihm greifen, um ihn aus diesem Albtraum zu wecken, doch da riss Rouven bereits die Augen auf und atmete tief aus. Trotz des Grauens, das ihm noch von dem Traum ins Gesicht geschrieben stand, lächelte er triumphierend.
„Es funktioniert! Du hast mir befohlen aufzuwachen, und ich bin wach geworden!“ Sein Lächeln vertiefte sich noch, als er Iyens verständnislosen Blick zu bemerken schien. „Du bist Teil meines Albtraums, ich sehe dich, wie du abseits am Lagerfeuer sitzt. Aber eben hast du dich umgedreht, also im Traum, und mir gesagt, dass ich wach werden soll.“
Iyen runzelte überrascht die Stirn. „Dann hast du wirklich sofort mit dem zweiten Schritt begonnen. Das lässt hoffen.“ Widerstrebend löste er sich aus der Umarmung. Er war mittlerweile steif und müde vom Liegen, ihm war viel zu heiß, trotzdem musste er sich zwingen aufzustehen. Viel lieber würde er weiterhin an Rouvens Seite bleiben und die Nähe genießen, das Verlangen, das mit jedem Atemzug stärker wurde … Es wäre so schön, wenn …
Alarmiert entfernte er sich mit langen Schritten vom Lager.
Was tue ich denn da?,
Weitere Kostenlose Bücher