Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Nayidenmond (German Edition)

Nayidenmond (German Edition)

Titel: Nayidenmond (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sandra Gernt
Vom Netzwerk:
er ließ es dabei bewenden. Einen jungen Oshanta würde man schlagen, bis er sich beherrschte und keine Frage mehr ohne Erlaubnis stellte.
    Rouven war glücklicherweise kein Oshanta … Iyen unterdrückte die Erinnerung an Schmerz, die ihn ungefragt ansprang. Das war lange her, es durfte ihn nicht mehr beeinflussen!
    „Ich weiß es nicht. Wir sprechen nicht über solche Dinge, und es gibt niemand, der sie uns beibringt. Der erste Schritt ist leicht, auch dir müsste es möglich sein, ihn in kurzer Zeit zu erlernen, innerhalb weniger Tage wäre am Besten.“
    „Wie? Was muss ich tun?“
    „Konzentriere dich vor dem Einschlafen darauf, dass du sofort aufwachen willst, sobald ein Albtraum beginnt. Denk an nichts anderes als die Worte: Das ist ein Traum! Mehr nicht. Dazu muss dir bewusst sein, dass du träumst. Du könntest deine Finger zählen, sobald es zu viele oder zu wenige sind, weißt du, dass du träumst. Oder du beißt dir auf die Lippen, ohne Schmerz zu spüren, oder prüfst, ob der Boden, auf dem du stehst oder sitzt, wirklich fest ist. “
    „Ich … so etwas mache ich gelegentlich“, murmelte Rouven. „Ich wusste nicht, dass es ungewöhnlich ist … Ich fliege gerne im Traum, wenn ich merke, dass ich eigentlich schlafe.“
    „Dann nutze deine Fähigkeit“, sagte Iyen entschieden.
    Rouven erwiderte nichts. Iyen war froh über die Stille, er empfand es als anstrengend, so viel reden zu müssen. Hatte er je in seinem Leben so viele Worte am Stück verloren?
    Fürsorge ist harte Arbeit!, dachte er, auch um sich von dem harten Pulsieren in seinen Lenden abzulenken. Der schlanke, warme Körper, der so dicht an ihn gedrängt dalag, weckte schon wieder Verlangen, das er sich nicht gestatten durfte. Iyen hatte bislang nur selten sexuelle Erregung gespürt. Die wenigen Huren, die er sich in seinem Leben gekauft hatte, waren eher abstoßend gewesen und hatten nur der Befriedigung eines Bedürfnisses gedient, das sich bei aller Askese und Selbstbeherrschung nicht gänzlich aus der Welt schaffen ließ. Was Rouven in ihm weckte, konnte Iyen nicht benennen, aber er wünschte sich mehr davon. Viel mehr – zu viel …
     

Rouven starrte in den Himmel über sich, der sich bereits morgendlich gerötet hatte. Die Blätter der Bäume bewegten sich im leichten Wind, im Augenblick herrschte angenehme Kühle vor. Er lag geborgen in Iyens Armen, der zwar nicht zu schlafen, sondern mit offenen Augen der Welt entrückt zu sein schien – vielleicht meditierte er? – und dabei so friedlich und ruhig wirkte. Hätte jemand Rouven vor drei Tagen gesagt, dass ein Oshanta, ein bezahlter Mörder, zu Mitgefühl und Sanftheit fähig war, hätte er ihn für verrückt erklärt.
    Rouven betrachtete die Metallperlen, die sich an Iyens Wangen entlang zogen. Wie unglaublich schmerzhaft es gewesen sein musste, als man ihm diese winzigen Dinger tief unter die Haut getrieben hatte! Es mussten Hunderte davon sein! Bevor Rouven sich zurückhalten konnte, hob er bereits die Hand und streckte sie nach Iyen aus. Als der sich regte, erwartete er, dass der Oshanta aus Reflex nach ihm schlagen würde. Doch er wandte ihm lediglich das Gesicht zu und musterte ihn ausdruckslos. Er hinderte Rouven nicht, also wagte er sich mutig weiter vor und berührte die Perlen, ganz leicht nur. Es fühlte sich seltsam falsch an, so etwas gehörte einfach nicht in ein menschliches Gesicht.
    „Ich war sechs“, sagte Iyen leise. „Für meinen ersten Mord stanzten sie mir die ersten Ulaun-Perlen in die Stirn. Die Letzten erhielt ich mit vierzehn, als ich offiziell in die Bruderschaft der Oshanta aufgenommen wurde.“ Rouven schluckte alle Fragen herunter, die in ihm brannten. Wie krank mussten Menschen sein, die so etwas mit kleinen Kindern machten? Wie krank muss es sein, kleine Kinder zu Mördern abzurichten! Er stützte sich auf einen Ellenbogen hoch, um die verschlungenen Muster auf Iyens Gesicht zu betrachten. Zögerlich strich er über diese Mahnmale menschlicher Grausamkeit. Neben den winzigen Perlen auf der Stirn befand sich altes Narbengewebe – gewiss, Iyen war noch gewachsen, als man ihm das antat. Die Haut musste im Laufe der Jahre um die Perlen herum eingerissen sein.
    „Es ist die Aufgabe der zehn- bis zwölfjährigen, die Perlen zu setzen. Sie müssen beweisen, dass sie den Verlauf der Gesichtsnerven kennen. Verletzen sie mit den Metallperlen große Nervenbahnen, kann es zu Lähmungen oder dauerhaften starken Schmerzen führen. Wenn das geschieht,

Weitere Kostenlose Bücher