Nayidenmond (German Edition)
der Bruderschaft abgewandt hatte, musste er einen neuen Lebensweg suchen. Offenbar hatte er entschieden, seine Aufgabe noch nicht abgeschlossen zu haben, bevor nicht sicher war, dass er, Rouven, niemals wieder zum Opfer der Oshanta werden konnte. Welcher Mensch konnte sich rühmen, einen solchen Wächter in seinem Schatten zu wissen! Was Iyen auf sich genommen haben musste, dass er so gelassen behaupten konnte, jede denkbare Antwort geprüft zu haben! Er sollte dankbar sein, und ja, Rouven war überwältigt vor Dankbarkeit. Dennoch sehnte er sich nach mehr, und die beschwichtigende Geste, mit der Iyen ihm über den Kopf gestrichen hatte, war wie ein Funke auf ausgedörrtem Gras.
„Schon gut“, flüsterte Iyen beruhigend und drückte ihm seine Handfläche gegen die Wange – offenbar glaubte er, Rouven stünde kurz davor, in Tränen auszubrechen. „Es gibt nur einen Grund, die Bruderschaft zu rufen, nämlich dann, wenn die Zielperson zu gut geschützt ist für normale Attentäter. Als Prinz bist du bestens gesichert, ein Entführungsversuch durch irgendwelche Diebe, die man in der Gosse aufgelesen hat, wäre entweder zum Scheitern verurteilt oder würde viel Aufsehen erregen, von zahlreichen Todesopfern ganz zu schweigen. – Wir sollten dich eigentlich auf dem Jagdausflug aufgreifen, waren aber vorbereitet, dich auch von hier fortzuholen. Von dieser Jagd haben Hunderte Menschen gewusst, eure Gäste eingeschlossen. Jemand, der hier im Palast lebt und dich gut genug kennt, bräuchte keine Oshanta. Er könnte dir Schlafgift ins Essen geben und mit einigen Helfern ungesehen an den Wachen vorbeischmuggeln.“ Iyen streichelte ihm über den Arm, stockte, als er die Gänsehaut spürte, die Rouvens Körper überzog. Wie sollte er wissen, dass dies kein Entsetzen war, sondern einzig eine Reaktion auf die Berührung, die Nähe und Zuwendung, die er ihm schenkte? Auf den Duft, der so vertraut war, als hätte es die langen Jahre der Trennung nicht gegeben? Innerlich brüllte er auf, als Iyen ihn losließ und sich erhob. Rouven legte den Kopf auf die Arme. Überfordert und erschöpft blieb er liegen und regte sich nicht, als Iyen ihm eine Decke überlegte, ohne sich wieder zu ihm zu setzen, sondern irgendwo hinter ihm zu kramen begann. Aus dem Tiefschlaf gerissen, von dem Mann, der seine Träume auf jede nur denkbare Weise beherrschte, überwältigt, bedroht und dann mit solchen Neuigkeiten überhäuft, vor dem Zusammenbruch bewahrt und getröstet zu werden, das war einfach zu viel auf einmal.
Langsam sickerte allerdings durch, was Iyens Botschaft bedeutete. Solange jeder verdächtig war, konnte er niemandem vertrauen, jeder Wächter könnte ein Verräter sein. Sich seiner Stiefmutter anzuvertrauen und darum zu bitten, dass sie für seinen Schutz sorgte, war nicht nur ein unerträglicher Gedanke, sie würde ihm wahrscheinlich gar nicht glauben. Nein, er musste fort von hier, dem Zugriff der Bruderschaft entgehen und durchhalten, bis der Nayidenmond vorüber war. Vielleicht konnte er ihn sogar überreden, nach Osor zu gehen? Danach würde er sicher sein … und Iyen endgültig verlieren.
Rouven stand auf, warf die Decke von sich und zog sich hastig die Kleidungsstücke über, die er achtlos auf dem Boden verteilt hatte. Hoffentlich hatte Iyen nicht gesehen, welche körperlichen Reaktionen er bei ihm verursacht hatte!
Iyen blickte auf, als der junge Mann sich erhob. Er hatte Verständnis dafür, wie schwierig es für Rouven sein würde, all dies zu verstehen, ihm zu vertrauen und sich ins Ungewisse entführen zu lassen. Er war auf all die Reaktionen dieses impulsiven, unbeherrschten Mannes gefasst, zerstört von Ängsten und Erinnerungen, der außerhalb der Stadtmauern nicht eine Nacht überstehen würde. Vor sechs Jahren hatte Rouven sich an ihn geklammert, um überleben zu können, war zudem die meiste Zeit bewusstlos gewesen. So einfach würde es diesmal nicht werden, schon weil der werte Prinz diesmal gesund und munter war. Er rechnete mit lästigen Fragen, mit Ängsten, Tränen und Verständnislosigkeit und war darauf vorbereitet, Diskussionen mit Androhung, schlimmstenfalls auch Ausführung von Gewalt zu unterbinden. Sie mussten raus aus dem Palast, so schnell wie möglich! Jeder Augenblick Vorsprung würde ihr Überleben sichern. Ein Jammer, dass der Sternforscher, den er bezahlt hatte, die Wiederkehr des Nayidenmondes zu berechnen, zwei mögliche Zeitpunkte genannt hatte, übermorgen und in zehn Wochen. Rouven
Weitere Kostenlose Bücher