Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Nayidenmond (German Edition)

Nayidenmond (German Edition)

Titel: Nayidenmond (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sandra Gernt
Vom Netzwerk:
stattdessen darin spiegelte: Erkennen, Freude, Misstrauen, Angst, Hoffnung und zuletzt Traurigkeit. Verblüfft sah Iyen dabei zu. Schon damals war Rouven äußerst ausdrucksstark gewesen, er hatte nie zuvor jemanden gesehen, der seine Gefühle so deutlich zu zeigen vermochte. Das hier allerdings … er riss sich mühsam zusammen, jetzt gab es Wichtigeres.
    „Versprich mir, nicht zu schreien!“, befahl er. Rouven nickte und langsam ließ Iyen ihn los. Erst jetzt wurde ihm klar, wie erschreckend sein Übergriff gewirkt haben musste.
    „Was …“, begann Rouven, aber sofort hob Iyen die Hand und brachte ihn zum Schweigen.
    „Deine Versprechen von damals sind weiterhin gültig“, zischte er schroff. „Keine unnötigen Fragen, nicht schreien, kein Widerstand, egal, was geschieht, egal, was ich dir antue. Erinnerst du dich?“
    Rouven nickte. Gleichzeitig wurde ihm wohl bewusst, dass er nackt vor ihm lag, er tastete nach seiner Decke, kaum dass er losgelassen worden war, und zog sie über sich, ohne ihn aus den Augen zu lassen. Die Angst, die in seinen Bewegungen spürbar war, schmerzte Iyen, erleichterte ihn aber auch. Alles, was Distanz zwischen ihnen schuf, konnte nur helfen, das hier durchzustehen. Er hätte ihn lieber in seine Arme gezogen und sanft zu ihm gesprochen, doch daraus konnte nur Schaden entstehen. Ein Oshanta, ein Entweihter , durfte nicht begehren, das untersagte der Kodex. Ein gewöhnlicher Mann durfte sich Adligen nicht nähern, das untersagte das gottgewollte Gesetz. Männer durften sich nicht lieben, das untersagten alle …
    Er nickte ihm zu, als Rouven ihn wortlos bat, sich aufsetzen zu dürfen – beinahe, als wäre sein Gesicht ein Buch, in dem man lesen konnte. Iyen ließ sich vollends auf dem Bett nieder, weit genug entfernt, um ihn nicht durch seine bloße Anwesenheit zu verängstigen, nah genug heran, um ihn zum Schweigen bringen zu können, sollte er so laut werden, dass die Wachen aufmerksam werden könnten.
    „Ich habe nach Antworten gesucht, seit ich dich deinen Brüdern übergeben habe“, begann er. „Die Frage, warum man ausgerechnet dir Attentäter geschickt hatte, welches Mysterium hinter dem Übergabeort und dem merkwürdigen Zeitrahmen steckte, hat mich beschäftigt gehalten. Ich musste es wissen, um sicher zu sein, dass sich so etwas nicht mehr wiederholen würde.“
    Rouven betrachtete ihn aufmerksam, mit einer Intensität, die Iyens Beherrschung schon wieder schwanken ließ. Rasch zog er eine Rolle aus kostbarem Nemagre hervor, die ihn Jahre voller Mühe und schlafloser Nächte gekostet hatte und legte sie in Rouvens zögernde Hand. Nemagre wurde unter großen Mühen aus Plattschilf gewonnen und war sehr teuer. Doch man konnte so viel leichter darauf schreiben als auf Wachs- oder Tontäfelchen und sogar Bilder malen, die lange erhalten blieben.
    „Kennst du die Weissagungen des Ebano?“
    Rouven nickte. Natürlich, jeder kannte sie – der Prophet, der vor über sechshundert Jahren gelebt und unzählige Schriften hinterlassen hatte, die von Zahlenmystik, Sternenkonstellationen und sonstigen Dingen nur so wimmelten. Die halbe Königsfamilie liebte es, sich damit zu beschäftigen!
    Rouven betrachtete das alte, vergilbte Nemagre, als könnte es jeden Moment in Flammen aufgehen. „Viele Leute glauben, er habe die Zukunft mithilfe von Mathematik und Sternenkunde entschlüsselt und Hinweise für die Nachwelt in seinen Tausenden Weissagungen hinterlassen“, sagte er.
    „Sehr richtig“, seufzte Iyen. „Das hier ist eine Kopie, die ich in einer Sammlung gefunden habe. Ich wusste nicht, die wievielte der Prophezeiungen für mich wichtig ist oder wie die Gelehrten es überhaupt sortieren … Nun, das braucht dich nicht zu interessieren.“ Sinnlos, ihm zu erzählen, durch wie viele staubige Gänge er gekrochen war, wie viele halb verfallene Stein- und Wachstafeln er im Schein einer einzelnen Kerze studieren musste, nachdem es ihn fast drei Jahre gekostet hatte, überhaupt auf diese Spur zu gelangen. Er hatte so viele Hinweise verfolgt, die ihn durch das halbe Land geführt hatten, war immer wieder nach Vagan zurückgekehrt, um sich zu vergewissern, dass es Rouven gut ging – davon wollte er ganz gewiss nichts erzählen. Wie er einem Bettler gleich auf der Straße gelebt hatte, in manchen Wintern nicht wusste, ob er den nächsten Tag noch sehen würde. Es würde Rouven nur auf falsche Gedanken bringen, davon zu hören. Unnötig, ihn damit zu belästigen, wie sehr er Ebano und

Weitere Kostenlose Bücher