Nayidenmond (German Edition)
morgen Nacht kommen, um ein zweites Mal zu versuchen, dich rechtzeitig zu übergeben“, flüsterte Iyen widerstrebend, als wollte er ihm diesen letzten Schlag eigentlich ersparen.
Von Grauen erfasst ließ Rouven das Täfelchen fallen, stand auf, ging zum Fenster, öffnete die Läden und starrte ins Leere. Dort war der Mond, von den grünlichen Schleiern umhüllt, die er eben gesehen und nicht weiter beachtet hatte … Er dachte nichts, fühlte nichts als ein Ziehen in der Leibesmitte; als wäre dort etwas, das seine Lebenskräfte aus dem gesamten Körper an sich zog; bis er seine Arme und Beine nicht mehr spürte, nur noch Flirren vor den Augen sah und sich unter seinem Rippenbogen eine große Kugel schmerzlich pulsierend zusammenballte und immer noch weiter anwuchs. Solange, bis es ihn beinahe in Stücke riss.
„Hinlegen!“ Iyen war plötzlich bei ihm, zwang ihn mit eisernem Griff im Nacken zu Boden.
„Was …? Nein …“, versuchte Rouven abzuwehren, doch er hatte nicht die Kraft sich zu widersetzen.
„Atmen, ruhig ein- und ausatmen“, hörte er aus weiter Ferne. Rouven versuchte es, so gut es ging bei dem krampfartigen Zittern, das ihn gepackt hatte. Die starken Hände, die auf seinem Kopf und an seiner Hüfte lagen, waren wie Anker, die ihn in dieser Welt hielten. Mit geschlossenen Lidern blieb er auf der Seite liegen. Iyen gab ihm Sicherheit und Wärme, Rouven betete still, dass er die Hände dort belassen würde. Er wusste, er würde abstürzen, sollte Iyen ihn loslassen …
Es dauerte lange, bis die Übelkeit, das Flimmern vor seinen Augen verging. Bis das Leben in seine Glieder zurückkehrte und sich der harte Knoten in seinem Leib auflöste.
„Wer? Wer glaubt an diese Prophezeiung, dass er mir gleich zweimal die Oshanta schickt?“, flüsterte er rau, als er wieder genug Gewalt über sich gewonnen hatte, um sprechen zu können. Er zuckte zusammen, als sich Iyen bewegte, fürchtete bestraft zu werden dafür, dass er gewagt hatte, eine Frage zu stellen; doch der Krieger setzte sich nur neben ihm nieder, ließ ihn zwar im Nacken los, legte ihm aber die Hände locker auf Schulter und Rücken.
„Ich weiß es nicht. Es könnte jeder sein, absolut jeder, der genügend Geld besitzt. Vermutlich kennst du ihn nicht einmal! Vielleicht ist es sogar ein anderer als vor sechs Jahren, die Schriften des Ebano sind vielen Leuten bekannt. Es gibt Geheimbünde, die ihr ganzes Leben diesen Prophezeiungen gewidmet haben und nichts anderes tun, als sie beständig neu zu interpretieren.“
Rouven schwieg, versuchte über all das nachzudenken, trotz des Nebels, der seinen Verstand umhüllte. „Wenn ich bis zum zweiten Tag nach Vollmond überlebe, ist es vorbei, nicht wahr? Ebano schreibt nur von zwei Gelegenheiten“, sagte er schließlich, drehte sich ein wenig, um Iyen ansehen zu können. Er war so unendlich dankbar, dass er ihm weiterhin nahe war, es ließ ihn diesen Wahnsinn ertragen. Wie sehr er wünschte, es wäre nur ein neuer Traum … Aber selbst für einen Traum war das alles zu verrückt.
Iyen nahm die Schriftrolle noch einmal hoch und tippte auf eine der Zeilen. „Sieh, hier ist sogar eine Abweichung zu der Prophezeiung, denn dein Vater regiert bereits seit zweiunddreißig Jahren, also länger als zwei Dekaden.“
„Was vermutlich niemanden davon abhält, es nicht doch einmal zu versuchen. Schlimmstenfalls verliert man das bisschen Geld für den Auftrag und König Rilon hat fortan nur noch sechzehn Söhne, also was soll’s, ist schließlich kein Verlust!“ Rouven knirschte mit den Zähnen, als ihm die Tragweite seiner Worte bewusst wurde. „Es könnte sogar jemand aus meiner Familie sein, oder zumindest aus dem Palast!“
„Das glaube ich nicht“, erwiderte Iyen spontan. Seine Hand fuhr ihm durch das Haar, was einen regelrechten Schlag durch Rouvens Körper jagte und ein solch intensives Prickeln auf der Haut hinterließ, dass er hastig nach Luft schnappen musste. Sechs Jahre hatte er geträumt, diesen Mann wiedersehen zu dürfen, von ihm gehalten und berührt zu werden. Nicht nur beschützend wie damals, sondern verlangend … Ähnlich, wie Jarne und Bero es getan hatten, nur ohne Gewalt und Zwang. Wie sicher er gewesen war, Iyen verloren zu haben! Nun war er zurück, noch düsterer und kälter als damals, so abweisend, dass jeder Gedanke an Verlangen oder Zärtlichkeit absurd erschien, und doch so fürsorglich … Noch immer war dieser Mann sein Beschützer. Gewiss, nachdem Iyen sich von
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