Nayidenmond (German Edition)
dann konnten sie heimkehren. Sofern man die Festung der Bruderschaft ein Heim nennen konnte.
„Nun komm schon, es ist doch bald vorbei!“, sagte er und schlug dem Gefangenen mehrmals leicht mit der flachen Hand ins Gesicht.
Als Rouven aufwachte, wirkte er körperlich recht munter, ansonsten aber vollkommen teilnahmslos. Er hatte nach dem einen langen Gespräch kaum noch ein Wort gesagt und überhaupt keine Empfindungen mehr gezeigt. Offenbar hatte er seine Seele bereits ins Geisterreich vorausgeschickt, mit dem Leben abgeschlossen, wissend, dass es keine Hoffnung mehr gab. Was auch immer dort in diesem Tal auf ihn warten würde, er war bereit dafür. Nun, Jarne war es nur recht, so hatte er sich jede Diskussion ersparen können und war weder von Gefühlsausbrüchen noch irgendwelchen Fragen nach dem Wohin oder Warum belästigt worden. Einige Male hatte er überlegt, ob er Rouven fragen sollte, was er selbst über seine Entführung wusste. Vielleicht hatte Iyen ja auch etwas herausgefunden? Es hätte allerdings Bero ein falsches Signal gegeben, sein Gefährte sollte auf keinen Fall fürchten, er, Jarne, könnte sich zu sehr für den Kleinen interessieren, egal auf welche Weise.
„Beweg dich!“, befahl er rau, sprang vom Pferd und zerrte Rouven dabei mit sich. „Wir sind angekommen, du wirst klettern müssen. Wir können nicht mit den Pferden dorthin, es ist zu steil.“ Widerstandslos folgte Rouven ihm nach.
„Komm her, ich werde dich mit einem Seil sichern“, befahl Bero. „Nicht, dass du auf den letzten Schritt vor Schwäche herunterfällst und dir dabei das Genick brichst.“ Rouven lächelte heiter, was Jarne verblüfft blinzeln ließ, ließ sich willig von Bero packen, damit der ihm das Seil umlegen konnte.
Der ist wirklich schon mit dem Leben fertig! Jarne sah zu, wie sein Gefährte geschickt Knoten knüpfte, die ein Sicherungsgeschirr für Rouven bilden würden. Als er sich umdrehte, um sein Pferd so anzubinden, dass es genügend Bewegungsfreiheit bekam, um das spärliche Gras auf dieser Lichtung erreichen zu können, sah er das metallische Blitzen.
Er reagierte sofort, warf sich gegen Bero und stieß ihn beiseite. Dabei prallte er gegen Rouven, sie stürzten alle drei zu Boden. Jarne sprang jedoch sofort wieder auf die Füße und hielt bereits sein Schwert in den Händen, als Iyen hinter einem Fels hervortrat. Auch Bero war kampfbereit, er griff nach Rouven, um ihn als Schutzschild zu missbrauchen. Ein ersticktes Gurgeln ließ Jarne zur Seite blicken. Entgeistert starrte er auf Bero, der sich keuchend zusammenkrümmte, und Rouven, der flink wie eine Katze zu Iyen hinüberrannte. Offenbar hatte er Bero einen Schlag in den Unterleib verpassen können. Iyen wirkte ebenso überrascht – niemand hatte damit gerechnet, dass der Junge die Kraft und den Willen besitzen könnte, sich jetzt noch zu wehren.
Oder auch nur die Fähigkeit!, dachte Jarne. Er fing sich wieder und Bero richtete sich bald auf, bewegte sich allerdings ein wenig steif.
Iyen drückte dem jungen Mann ein Schwert in die Hand. So, wie Rouven es hielt und sofort in Kampfposition ging, war zu sehen, dass der Prinz gut geschult worden war.
Vielleicht sogar von Iyen selbst? Womöglich haben sie sich heimlich getroffen, außerhalb der Stadt … Nein, das ist lächerlich, dann wären sie noch weitaus vertrauter miteinander und der Kleine hätte sich mehr gewehrt. Er ist ein Prinz, denen zeigt man, wo beim Schwert oben und unten ist.
„Bist du ein Köter, der diesem Mann hechelnd wie einer läufigen Hündin nachrennt?“, zischte Bero voller Verachtung und spuckte Iyen vor die Füße. „Du hast uns dein Versprechen gegeben, uns nicht zu folgen!“
„Ich bin euch nicht gefolgt, sondern auf direktem Weg hierhergekommen“, erwiderte Iyen gelassen. „Ich war sogar vor euch hier, falls du das nicht bemerkt haben solltest.“
„Du hast ihn trotzdem aufgegeben, verdreh nicht die Worte im Mund wie ein Priester! Du bist ein Oshanta, du kennst nur eine Art von Ehre, und die hast du verraten!“
„Ich bin kein Oshanta mehr“, sagte Iyen mit fester Stimme. „Ich kann kein Oshanta mehr sein, denn meine Hände haben Trost, Heilung und Vertrauen geschenkt. Ich kenne Mitgefühl, Treue und Angst.“ Er warf Rouven einen langen Blick zu. „Ich kenne Sehnsucht, Schmerz und Verlangen. Du, Rouven, hast mir all dies geschenkt, und was auch immer heute unter diesem verfluchten Nayidenmond geschieht …“ Er brach ab, doch sein Schweigen, sein
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