Nayidenmond (German Edition)
presste seinen rechten Arm an die Seite, es kribbelte, seine Finger waren taub, und seine Schnittwunde hatte wieder begonnen zu bluten. Wütend, wie er war, ließ er sich davon nicht weiter beeindrucken. Das Schwert rammte er mit der Spitze in den Boden und genoss den Gedanken an Meister Karm, der bei diesem Anblick einen Anfall erlitten hätte – besser, er misshandelte ein Schwert, statt einem Unschuldigen den Kopf abzuschlagen.
Er sah, wie Arnulf den Soldaten, die hinter ihm standen, einen Wink mit den Augen gab und dabei auf Iyen blickte. Rouven begriff sofort: Ohne nachzudenken, sprang er auf seinen Bruder zu, mit zwei Sätzen war er bei ihm.
„Wag es, Arnulf!“, rief er, „Wag es, ihm einen Pfeil in den Rücken jagen oder ihn wie ein Tier hetzen zu lassen! Du würdest die meisten deiner Leute an ihn verlieren, wenn nicht sogar alle. Und du müsstest mich gleich mit erledigen, denn sonst hättest du keinen ruhigen Moment mehr, bis ich dich für diesen Verrat zur Verantwortung gezogen habe!“
„Nun hör, wer hier von Verrat spricht, nachdem er sich diesem Oshanta an den Hals geworfen hat und mit ihm fortlaufen – durchbrennen – wollte“, grollte Arnulf zurück, aber Rouven war noch lange nicht fertig.
„Ob es dir gefällt oder nicht, Iyen hat mir mehrfach das Leben gerettet. Ohne ihn wäre ich schon vor zwei Tagen auf irgendeinem Felsen ausgeblutet, ohne dass ihr je etwas davon erfahren hättet!“
Wieder fuhr Arnulf auf, als wollte er heftig etwas erwidern, doch nun trat Barlev an Rouvens Seite.
„Schluss jetzt!“, donnerte er. „Absolut unglaublich, dass du den Retter unseres Bruders angreifen willst! Hast du nicht zugehört? Ohne Iyen wäre Rouven bereits damals gestorben, zu Tode gefoltert von diesen …“ Er schnaubte vor Zorn und Verachtung, senkte dann seine Stimme, sodass niemand von denen, die nicht eingeweiht waren, ihn hören konnte. „Sechs Jahre im Untergrund, verfolgt von seinen eigenen Leuten – wenn er da ein wenig Nähe gesucht und gefunden hat, ist das vollkommen normal! Mehr noch, es beruhigt mich zu wissen, dass auch ein Oshanta ein fühlendes menschliches Wesen ist, oder zumindest sein kann.“ Er atmete tief durch und fuhr dann fort: „Er hat Rouven nicht geschändet wie die anderen. Dass sich unser Bruder nach solch extremen Erfahrungen irgendwo anlehnen wollte, ist ebenfalls vollkommen natürlich und wenn Rouven loyal zu ihm steht, ist das kein Verrat, sondern noch mehr natürliche Normalität!“
Arnulf war dunkelrot angelaufen. Mit geballten Fäusten stand er Barlev gegenüber und es sah so aus, als würde gleich etwas geschehen. Doch da trat Tarrin zwischen die beiden.
„Lass es gut sein!“, zischte er zu Arnulf. „Derjenige, der unseren Bruder wahrhaftig entehrt hat, liegt dort hinten!“ Sein Kopf zuckte zu der Trage, auf der Rilon lag. „Amanta wird dafür bezahlen, und die beiden Männer, die ihn schändeten, sind tot. Der Oshanta dort hat nichts getan, wofür er den Tod verdient hätte, im Gegenteil, er sollte die höchsten Ehren erhalten! Ich schäme mich für dich! Aber ich halte dir zugute, dass Vaters … Tat … dich aus dem Gleichgewicht gebracht hat.“
Rouven war nicht der Einzige, der Tarrin ungläubig anstarrte – seit wann stellte der sich gegen Arnulf? Anscheinend gab sein Wort den Ausschlag. Arnulf knurrte etwas, das nach „also gut“ klang und nickte schließlich Iyen zu.
„Geh, Oshanta, niemand wird dich behelligen.“
Für alle sichtbar ließ Iyen, der die ganze Zeit über regungslos verharrt hatte, vier Wurfdolche im Gürtel verschwinden. Rouven bewegte sich unruhig – Iyen hatte die Dolche so gehalten, dass man sie nicht hatte sehen können, und jeder wusste, wie schnell ein Oshanta damit war.
Er konnte ihn nicht gehen lassen, der bloße Gedanke, dass Iyen so einfach verschwinden könnte, brachte ihn um. Rasch lief er zu ihm, und diesmal hielt niemand ihn auf.
„Iyen, ich liebe dich. Bitte, geh nicht!“, flehte er.
Iyens Herz sank. Einmal mehr musste er ihn abweisen und hoffen, dass sie beide das überstehen konnten.
„Das muss ich aber. Du bist ein Prinz von Kyarvit! An meiner Seite würdest du als Ausgestoßener leben müssen, von der Hand in den Mund, im Elend, sobald der Winter kommt, von aller Welt verachtet ebenso, wie ich gehasst werde. Du hast mein Leben gerettet, die Schuld ist beglichen. Du bist frei.“
„Iyen, bitte ...“ Der tiefe Schmerz in diesem Gesicht, das er so sehr liebte, hätte Iyen beinahe
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