Nazigold
die Person nicht. Und auf dem Päckchen steht kein Absender.
Nur die Anschrift. Wenn er nun zurückkehrt, weiß er gar nicht, an wen er sich
wenden soll. Soll er das Päckchen öffnen? Vielleicht befindet sich etwas darin,
was ihm weiterhilft. Und wenn in dem Päckchen gar nichts enthalten ist? Wenn es
leer ist? Jemand, den Gropper nicht kennt, schickt ihn zu jemandem, den er
ebenfalls nicht kennt, um dort ein leeres Päckchen abzugeben. Was soll das
bedeuten? Das hat doch keinen Sinn!
Er versucht sich zu erinnern, aus welcher Richtung er kam. Es gibt
vage Anhaltspunkte. Auf einem erdigen Weg geht er ein paar Meter in die
Richtung, aus der er vermutlich kam. Also weg von der Grenze. Nach drei, vier
Schritten packt ihn jemand von hinten an der Schulter. Dieser Jemand steht
dicht hinter ihm. Gropper erstarrt, er wagt nicht, sich umzudrehen. Da hört er
eine Stimme, die er noch nie zuvor gehört hat, dröhnend sagen: »Du hast die
Grenze überschritten.«
Es reißt ihn aus dem Schlaf. Er hat geträumt. Nass geschwitzt liegt
er da. Gropper braucht eine Weile, um zur Besinnung zu kommen, um sich bewusst
zu werden, wo er sich befindet. Er schleudert sein Bettzeug zur Seite und
tastet auf dem Nachtkästchen nach der Lampe, drückt das Knöpfchen. Kein Licht.
Da fällt ihm ein, dass sich in der Nachttischlampe keine Glühbirne befindet. Er
tastet nach seiner Taschenlampe, die er sich zurechtgelegt hat. Endlich kann er
sie greifen, knipst sie an und leuchtet das Zimmer ab. Keine verwirrte
Landschaft, keine falsche Karte und kein Päckchen auf der Bettdecke. Nur seine
schäbige Dachkammer. Teils ist er erleichtert, teils voller Angst. Was war das
für ein Traum? Wieso träumt er so etwas? Noch lange liegt er wach, aufgewühlt
und verschwitzt.
5
Alls muaß sei Maß haben: kurze Predigt
und lange Bratwürst.
Der alte Pfarrer Berghammer steht noch immer vor dem Altar
zwischen den beiden hohen hellen Fenstern und feiert das Hochamt wie schon vor
über fünfundzwanzig Jahren. Und wie schon vor über fünfundzwanzig Jahren legt
sich der Weihrauchduft um Groppers Kehle und Hirn, sodass ihm ein wenig übel
wird. In der Kirche ist es auch noch genauso kalt wie damals. Schon immer hat
er bei den Sonntagsmessen gefroren. Sogar in den heißen Sommern. Manchmal, im
Winter, konnte man sogar den weißen Atem der Betenden sehen. Als würden ihre
Seelen aus den Mündern entweichen.
Eigentlich ist er aus reiner Sentimentalität hierhergekommen. Es ist
Sonntag, die Zeit des Hochamtes, und die Glocken von St. Peter und Paul
haben so feierlich gerufen, da musste er herkommen, in diese Kirche, die er so
gut kennt. Immer noch schwelgt, schwebt und schwappt alles über vor barocker
Pracht, leuchten die mächtigen Freskomalereien von den Wänden und Decken,
prunkt der vergoldete Stuck, fliegen die Engelchen aus Gips über die ernsten
Heiligenfiguren, die mit großen Gesten mahnen. Auch St. Rochus am linken
Seitenaltar hat immer noch sein Gewand hochgerafft und zeigt auf seine
klaffende, blutende Wunde am Oberschenkel. Gropper hat sich schon als Kind
gefragt, was das für eine Wunde ist. Wer hat den Heiligen am Bein so schwer
verletzt? Und warum? Seine Eltern wussten es nicht, und den Pfarrer Berghammer
wollte er nicht fragen. Er hätte bestimmt eine schlimme Legende erfunden, einen
Kampf mit dem Teufel, und ihn gewarnt: »Pass auf, dass nicht auch du mit dem
Teufel kämpfen musst.«
Als junger Bub hat er in dieser Pfarrkirche als Ministrant gedient.
Aber nicht lange. Der Pfarrer Berghammer schickte ihn bald wieder nach Hause.
Zu oft machte er etwas falsch. Entweder erhob er sich von den kalten
Marmorstufen zu früh oder zu spät, klingelte mit seinem Glöckchen bei der
Wandlung an den falschen Stellen oder trug die Heilige Schrift auf ihrem
Holzständer falsch von der einen zur anderen Altarseite, wobei ihm beim
Niederknien vor der Altarmitte einmal beinahe die dicke Bibel von dem schrägen
Holzgestell gerutscht wäre. Diesen Schreck spürt er heute noch. Da war’s dann
vorbei. Nach der Messe sagte Berghammer in der Sakristei zu ihm, er müsse am
nächsten Sonntag nicht mehr kommen. Darüber war Gropper froh. Von dem
Weihrauch, den er in dem Fässchen an der silbernen Kette schwingen musste, war
ihm sowieso beinahe jedes Mal schlecht geworden, sodass er sich nach draußen an
die frische Luft sehnte.
Er betrachtet die dunklen, in die Wände eingebauten Beichtstühle.
Darin kniete er als Kind und als Jugendlicher auf dem schmalen und
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