Nazigold
stehen. »Da is de weiße Nixe«, stammelt er entsetzt. »De holt jedn, dea
ihare Insl betritt.«
»Glaubst du an solche Märchen?«
»I scho. Denk an dein Vadda.«
»Das war ein Unglück.«
»Den hat de weiße Nixe gholt. Des is gwieß.«
Strasser sagt das mit solcher Ernsthaftigkeit, dass Gropper einen
Moment nachdenklich wird. Da sieht er den Motorradfahrer auf ihn warten.
»Ich muss jetzt weiter.«
»Pass nua auf, dass di net a de Nixe holt«, ermahnt ihn Strasser
voller Sorge.
Im Bootshaus am Steineck sind zwei alte Kähne aufgebockt. Mit
ihnen holten die Fischer während des Krieges und davor die Saiblinge, Zander
und Renken aus dem See und verkauften sie in Einsiedl und Walchensee. Am
Bootssteg ist ein großes Schild befestigt: »Betreten der Insel streng verboten.
Naturschutzgebiet. – Der Bürgermeister.«
Sie ziehen einen der beiden Kähne ins Wasser und rudern hinüber zur
dicht bewachsenen Insel. Der See ist schwarz. Die Wassermassen sind noch
aufgewühlt vom Gewitter und Sturm.
Gropper spürt ein unangenehmes Herzklopfen. Er muss an die Nixe
denken, die nach der Legende auf der Insel den Schatz des Königs bewacht. Er
muss an den Tod seines Vaters denken, der nichts mit diesem sagenhaften Schatz
zu tun hatte. Und nun liegt wieder eine Leiche auf der Insel. Hat sie etwas mit
dem geheimnisvollen Gold jenes Königs zu tun? Gibt es dieses Gold vielleicht
doch? Vergraben unter den giftigen Eiben, unter dem dichten Weißdorngestrüpp
und dem blühenden Ginster?
Gropper schaut auf die Wellen, die der Alte mit den Rudern schlägt,
und hört in Gedanken die silberne Stimme der Nixe.
Begehrst du das Gold, tauch ich auf aus dem
See, hol dich hinab in die murmelnden Wogen.
Dann bist du mein, vorbei ist dein
Wahn. Ich werd dich auf immer umfangen.
Kräftig führt der Alte die Ruder durch das Wasser, schnell
nähert sich der Kahn der Insel.
An einer flachen Uferstelle legen sie an, springen vom Bug auf den
Kies, ziehen das Boot an Land und binden es an einer dicken aus dem Boden
herausragenden Baumwurzel fest.
Gropper bleibt kurz stehen. In seinem Kopf dröhnt eine dunkle
Glocke. Wieder erinnert er sich, wie er am Grab seines Vaters und am Sterbebett
seiner Mutter fest versprechen musste, nie diese Insel zu betreten. »Bei meiner
Seel«, hatte sie gehaucht. »Sonst holt die weiße Nixe auch dich.« Um ihr diesen
Letzten Willen zu erfüllen, hatte er es ihr in die Hand versprochen. Was sollte
er auch je auf dieser Insel?
Und nun steht er doch zwischen Schilf und Gestrüpp auf Sassau. Ein
paar Sekunden lang zweifelt er sogar daran, dass er lebendig wieder von dieser
Insel wegkommt. Der Alte sieht ihn zögern und drängt, durch die Wildnis, durch
Gebüsch und Gestrüpp, einen Pfad zu der Fundstelle zu schlagen.
Nixe, so ein Unsinn, sagt sich Gropper und schiebt seine Versprechen
beiseite. Trotzdem ist ihm mulmig zumute.
»Da hinten liegt sie«, sagt sein Begleiter. Sie treten aus dem
Gestrüpp heraus und sehen am Ufer einen gräulich weißen formlosen Körper
liegen. Der Alte zieht seine Schirmmütze vom Kopf und bleibt stehen. Gropper
nähert sich langsam der unheimlichen Gestalt. Vor ihm, halb im Wasser, liegt
die nackte, stark verweste Leiche.
Wieder denkt er an die Beschwörung seiner Mutter: »Geh nie auf diese
Insel.« Mit einem Mal scheinen ihm ihre Ängste nicht mehr so blödsinnig.
Die Gestalt liegt auf dem Rücken, umspült von den sanften Wellen des
Sees. Vielleicht ein Kind oder eine kleine Frau. Der verfaulte Körper ist eine
graue wachsartige, seifenähnliche Masse. Aufgedunsen und schwammig. Die
fauligen Gase haben die Leiche aufgebläht. Sie stinkt.
Die Haut ist aufgequollen und sieht aus, als würde sie sich leicht
abziehen lassen. Große Flächen sind mit Algen bedeckt, bunt und zottlig.
Durchsetzt mit Stofffasern.
Das waren einmal ihre Kleider. Sie muss schon sehr lange im Wasser
liegen. Es fehlen eine Hand und ein Fuß. Abgefallen durch Fäulnis und Tierfraß.
Die Kopfhaare sind ausgefallen, der Schädel völlig kahl. Das Gesicht ist nicht
mehr zu erkennen. Es besteht nur noch aus einer verfaulten, stinkenden Masse,
die sich bewegt. Unzählige weiße Maden wimmeln auf der Oberfläche. Sie kriechen
aus den Augenhöhlen, aus der Nase, aus dem Mund, aus den Ohren. Der Leib ist
angefressen von Fischen, Krebsen, Ratten, Möwen. Abgefressen sind die Nase, die
Ohren und die Lippen. Augäpfel gibt es nicht mehr.
Abgestoßen von Ekel und zugleich angezogen von Neugier, beugt sich
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