Nazigold
Gropper
trotz des widerlichen Gestanks über das, was früher mal ein Mensch war. Er
fragt sich, ob der Tod durch Ertrinken oder bereits an Land eingetreten ist. Da
entdeckt er auf dem kahlen Schädel ein großes Loch, aus dem Würmer kriechen.
Wurde diese Person erschlagen und dann in den See geworfen?
Das Einzige, was an dem zersetzten Leib noch erhalten ist, ist ein
dünnes, geschwärztes Kettchen um den Hals mit einem kleinen verrosteten Kreuz
daran. Dieses Halskettchen kommt ihm bekannt vor. Es erinnert ihn an jemanden.
Er weiß nur nicht, an wen. Da sieht er plötzlich ein Bild vor sich, das eines
kleinen Mädchens, das ihm stolz ein aus Kastanien und Streichhölzern
gebasteltes Männchen zeigt. Rosi. Sie hat als Kind ein Kettchen mit so einem
kleinen Kreuz getragen. Damals war sie sechs Jahre alt und ging in die erste
Klasse der Dorfschule in Walchensee. Das war vor sieben Jahren.
Mit einem Schlag ist Gropper sich sicher: Das ist Rosi, die Tochter
seines Freundes Feigl, der mit seiner Frau Kreszenz im Forsthaus Einsiedl
wohnt, ganz nah von hier. Nun liegt Rosis verwester Körper vor ihm. Dreizehn
wäre sie dieses Jahr geworden.
Als er das Kettchen anfasst, zerbricht es. Er steckt es zusammen mit
dem kleinen Kreuz in seine Jackentasche.
Nun muss er zu den Feigls und ihnen die schreckliche Nachricht
überbringen. Das Wiedersehen mit seinem alten Schulfreund hätte er gern unter
anderen Voraussetzungen erlebt.
Dass er die ganze Zeit bis zu den Knöcheln im Wasser gestanden hat,
bemerkt Gropper erst jetzt.
Er richtet sich auf und schlurft mit den Schuhen voller Wasser
zurück zu dem alten Mann, der immer noch seine Schirmmütze in den Händen hält.
»Kannten Sie sie?«, fragt der Alte mit belegter Stimme.
Gropper nickt und bittet ihn, nach Walchensee zum Krankenhaus zu
fahren. Die Sanitäter müssen mit einem Wagen kommen und Rosis Leiche abholen.
Sie sollen sich im Forsthaus Einsiedl melden. Dort wartet er auf sie.
Sie setzen über den See und machen das Boot fest. Als der Alte mit
seinem Motorrad abgefahren ist, fällt Gropper ein, dass er ihn gar nicht nach
seinem Namen und seiner Adresse gefragt hat.
Kreszenz kocht gerade Marmelade ein. Die ersten Erdbeeren aus
ihrem Garten. Sie dreht sich um, macht große Augen, lässt den Holzlöffel in
einem der Töpfe stecken und wischt ihre klebrigen Finger an der Kittelschürze
ab. »Der Martin! Was machst du denn hier?«
Schnell nimmt sie die Töpfe vom Feuer, legt die Eisenringe über die
Flammen und schüttelt ihm mit ihren immer noch klebrigen Fingern die Hand.
»Setz dich. Schön, dass du uns besuchst. Der Xaver ist im Wald.«
Als Gropper sich an den Tisch setzt, schiebt sie das Hackbrett mit
dem Fleischmesser beiseite und wischt die Stelle mit ihrer Küchenschürze
sauber. Er ist erleichtert, dass er mit Kreszenz allein ist. Er will die
schreckliche Nachricht so lang wie möglich hinausschieben. Sie setzt sich auf
der Eckbank ihm gegenüber und wischt immer wieder ihre Hände an der Schürze ab.
Sie ist erschreckend gealtert, seit er sie das letzte Mal sah. Ihr
Gesicht ist ausgemergelt. Ihre Haare, die sie nach hinten zu einem Zopf
zusammengebunden hat, sind grau geworden, ihr Körper mager und eingeschrumpft.
Wie lebensprall war sie früher! Voller Vitalität. Und nun so eingefallen. Er
bringt es nicht fertig, dieser geschwächten Frau zu sagen, dass ihre Rosi tot
ist. Obwohl sie es sicher längst ahnt. Er bringt es nicht übers Herz. Vorerst
nicht.
Er sieht sich um. In der Küche ist alles unverändert. Vor den beiden
kleinen Fenstern steht immer noch die alte Holzbank mit den ausgefransten
Seegraspolstern, daneben der Schrank. Im Aufsatz hinter den Glastürchen das
Geschirr, davor der Brotkasten, daneben die alte Küchenwaage. Im Herd prasseln
die Scheite, im Grantl summt das siedende Wasser, und um den Herd herum blinkt
die Messingstange, an der die Küchentücher zum Trocknen baumeln. Über dem Herd
hängen die Töpfe, Pfannen und die Bratreine. Die alte Pendeluhr neben dem Bild
von Papst Pius XII . tickt gemächlich.
Doch etwas ist anders: Im Herrgottswinkel ist an das Kruzifix ein
Foto von Rosi gesteckt, eine Aufnahme, die sie mit ihrer silbern verzierten
Kommunionskerze in der Hand zeigt.
Als Kreszenz bemerkt, dass er das Bild anschaut, sagt sie mit
tonloser Stimme: »Sie ist schon über ein Jahr weg. Ich denk halt immer noch,
dass sie irgendwann wiederkommt.«
Neben dem Herrgottswinkel bemerkt Gropper an der Wand ein großes
Rechteck,
Weitere Kostenlose Bücher