Nazigold
Der Krampf kriecht die Wade hinauf. Er
muss die Stellung des Fußes ändern. Das Boot schaukelt. Für kurze Zeit verliert
Gropper das Gleichgewicht, und Wasser dringt ein. Durch seinen Wadenkrampf
findet sein Fuß nicht sofort die Öffnung in der Bootswand. Noch mehr Wasser
strömt in den Kahn; der wird schwerer, verlangsamt die Fahrt. Wild schlägt
Gropper die Ruder in die Wellen, alle Vorsicht ist nun vergessen. In seiner
Angst zu ertrinken, hört er die Stimme der Nixe singen: … tauch
ich auf aus dem See, hol dich hinab in die murmelnden Wogen. In meinen Armen,
so weiß wie der Schnee …
Es sind noch etwa hundertfünfzig Meter bis zum Steg. Der Krampf in
seiner Wade wird so stark, dass er den Fuß kaum noch halten kann. Für ein paar
Sekunden muss er den Fuß vom Leck nehmen. Noch mehr Wasser im Boot! An seine
brennende Wunde im Oberschenkel denkt er schon fast nicht mehr. Wieder findet
sein Schuh nicht die Öffnung, als er das Leck wieder abdecken will. Das Wasser
steht nun bis knapp unter dem Sitzbrett. Wieder hört er die Nixe singen: … dann bist du mein. Ich werd dich auf immer umfangen.
Panisch fuhrwerkt Gropper mit den Rudern im Wasser. Dadurch
schaukelt der Kahn noch heftiger. Das Boot ist schon fast bis zum Rand voll.
Dabei sind es nur noch wenige Meter bis zum Steg. Gropper zwingt sich, die Ruhe
zu bewahren, und atmet tief durch. Einige letzte Anstrengungen mit den Rudern,
dann kann er nach den Pfählen des Steges greifen. Halb betäubt vom Feuer des
Schmerzes im Bein, wälzt er sich auf die rettenden Bretter. Dort bleibt er
kraftlos liegen und sieht, wie seitlich neben ihm der Kahn glucksend im Wasser
versinkt.
In seinen Ohren rauscht es, als wären sie voll Wasser. In diesem
Rauschen hört er wie von weit entfernt die Stimme seiner Mutter und seines
Lehrers Maier. »Geh nicht auf die Insel.«
Irgendwann, er weiß nicht, wie lange er so dagelegen hat, rafft er
sich auf und hinkt zum Bootshaus. Das Motorrad ist weg. Aber sein Wagen steht
noch da. Er sieht nach, ob die Reifen durchstochen sind. Wäre ja mit dem
Filiermesser des Anglers kein Problem gewesen. Gott sei Dank, keine Platten.
***
Im Mittenwalder Krankenhaus Am Anger trifft er Schwester Agathe
auf dem Flur, eine ehemalige Kollegin und Freundin von Luise. Sie erkennt ihn
sofort wieder.
»Der Martin Gropper! Aber wie schaun Sie denn aus?«
Die Hose klatschnass und voller Blut, die Jacke ebenso nass und mit
Erde verschmiert und im Gesicht die Spuren der erlebten Schrecken und
Anstrengungen – so steht er vor ihr.
»Wo kommen Sie denn her? Der Krieg ist doch schon über ein Jahr
vorbei«, stammelt sie halb zwischen Scherz und Entsetzen. »Kommen S’ mit.«
Sie führt ihn in ein Behandlungszimmer. Gropper zieht seine Hose
aus, und die Schwester untersucht seine Wunde.
»Das schaut bös aus. Aber ich hab ganz andere Wunden gesehen bei
Kriegsende, als das hier Lazarett war. Wie ist das denn passiert?«
»Ein Messer ist mir ausgerutscht.«
»Da unten am Oberschenkel?«
Gropper schweigt verlegen.
»Na ja, geht mich nichts an. Müssen wir erst mal desinfizieren.« Aus
einem Glasschrank holt sie ein Fläschchen Jod und fragt dabei: »Wie geht es
denn Luise?«
»Gut«, antwortet Gropper. »Sie arbeitet jetzt im Lungensanatorium
Gauting. Bei den ehemaligen KZ lern.«
»Achtung, das brennt jetzt«, sagt sie und tupft mit einem
Wattebausch die rötliche Flüssigkeit auf den langen, tiefen Schnitt. Es brennt
höllisch, als würde man eine Streichholzflamme daranhalten. Ein herbeigerufener
Arzt versetzt ihm eine Spritze zur örtlichen Betäubung, stellt, nachdem die
Stelle völlig taub ist, eine kleine Abdeckung auf und näht die Wunde. Noch eine
schmerzstillende Spritze, dann bestreicht Schwester Agathe die Wunde mit einer
Salbe, klebt ein großes Pflaster darauf, darüber eine Kompresse, und umwickelt
das Ganze mit einer Mullbinde.
»Morgen Vormittag kommen Sie zu mir zum Verbandswechsel. Dann
schauen wir uns die Sache mit Ihrem ausgerutschten Messer noch mal an. Und
danach pflegt Sie Ihre Luise weiter.«
Als er seine völlig versaute Hose hochgezogen hat, betrachtet sie
ihn nochmals von oben bis unten. »So können Sie aber nicht im Ort herumlaufen.«
Gropper erklärt, er habe in seiner Unterkunft Ersatzkleider.
»Kommen S’ mit.« Agathe führt ihn über den Flur in eine
Kleiderkammer und nimmt einen alten Wehrmachtsmantel vom Bügel. »Ziehen S’ den
so lang an. Den hat ein Soldat liegen lassen, der hier gestorben ist. Wir
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