Neandermord
riss mich los.
»Herr Müller«, rief ich. »Kommen Sie in die Wirklichkeit zurück. Helfen Sie mir.«
Er wandte den Kopf und sah mich an, als habe ich ihn aus einem Traum geweckt.
»Stellen Sie den Film ab. Bitte!«
Marlowe sprach jetzt mit einer Frau. Sie wunderte sich darüber, dass es außer in Kriminalromanen überhaupt Privatdetektive gab. Hatte die eine Ahnung!
Der Projektor stand hinten in einem Glaskasten, der aussah wie der Kassenschalter einer Bank. Ich fragte mich, wie Müller ihn angeworfen hatte. Wahrscheinlich gab es eine Fernbedienung.
Mein Blick wurde abgelenkt. Licht drang in den Raum. Hatte sich da etwas verändert?
Auch Müller bemerkte es und sah sich um, aber die Tür, die aufgegangen war, befand sich zu weit hinter ihm, sodass er den Rollstuhl hätte wenden müssen, um genau zu sehen, was da los war.
Seine Hand tastete nach etwas. Das Licht ging an, und Marlowe und die Filmschönheit verblassten. Die Filmrolle stoppte, die Musik erstarb.
Der Kinosaal sah jetzt nicht mehr so romantisch und cineastisch aus. Eher wie eine umgebaute Garage.
»Sie sind doch allein gekommen?«, fragte Müller.
In mir pulsierte das Adrenalin. Ich griff nach meiner Pistole und enterte die hinterste Stuhlreihe, dabei behielt ich die halb geöffnete Tür hinter dem Vorhang im Auge. Bevor ich mich weiter nähern konnte, donnerte das Türblatt zur Seite. Ein Knall. Ich ließ mich in die Reihe fallen.
Aus dem Vorraum drangen schnelle Schritte. Jemand lief die Treppe hinauf.
Ich sprang auf und drängte mich an Müllers Rollstuhl vorbei. Als ich oben ankam, hatte ich meine P1 fertig geladen und feuerte zweimal in den Gang.
»Stehen bleiben!«, schrie ich.
Stille. Der Schütze musste sich versteckt haben.
Weiter.
Die Haustür war geschlossen. Ich presste mich an die Wand und lauschte. Keine Schritte, kein Atmen - nichts.
Sei vorsichtig, hämmerte es in meinem Kopf.
Ich tastete mich weiter vor. Zurück im Flur öffnete ich eine Tür nach der anderen. Schlafzimmer. Badezimmer mit Hebevorrichtung an der Badewanne. Niemand.
Ein großes Wohnzimmer - fast so ausladend wie das von Jutta. Eine Fensterfront, hinter der sich der Garten mit angrenzenden Nadelbüschen erstreckte, bevor die Aussicht in die tristen Gesteinshalden überging.
Eine offen stehende Terrassentür. Ich hetzte hinaus auf die Natursteinfliesen. Der Garten, ein rechteckiges Karree aus Rasen, war leer.
Ich steckte die Pistole weg und lief wieder nach unten zu Müller.
Er war in seinem Rollstuhl zusammengesackt. Aus seinem Hemd lief ein dünnes Rinnsal über die Kante des Rollstuhls auf den Boden. In der grellen Beleuchtung, die jetzt in dem Kinosaal herrschte, sah das Blut fast schwarz aus.
Ich zog mein Handy heraus. Müller stöhnte. Sein Blick war wieder wie hypnotisiert - genau wie vorhin, als er von dem Film so gefangen gewesen war.
»Warum?«, gurgelte er.
Ich schaltete das Telefon ein und wartete, dass es Empfang bekam. Verdammt, es kam auf jede Sekunde an!
»Warum haben Sie das getan?«, keuchte Müller leise.
Er glaubt tatsächlich, ich hätte auf ihn geschossen, dachte ich. Verdammte Scheiße.
Kein Netz. Ich musste noch mal nach oben. Ich ließ den Glücksspiel-King allein, wartete quälend lange Sekunden, bis sich das kleine Antennensymbol auf dem Display aufgebaut hatte, und tippte 110.
Ich nannte keinen Namen. Nur die Adresse. Und die Information, dass hier jemand angeschossen worden war. Ich beschrieb, so gut es ging, den Weg in den Keller.
Dann ging ich noch mal zu Müller.
»Warum?«, hauchte er immer noch.
»Ich habe nicht geschossen. Glauben Sie mir das bitte. Hilfe ist unterwegs.«
Er stöhnte.
Ich versuchte zu rekapitulieren, was ich vor tausend Jahren beim Erste-Hilfe-Kurs für den Führerschein gelernt hatte. Den Blutfluss stoppen. Den Arm abbinden. Aber womit?
Ein Kabel! Hier musste es doch ein Kabel geben!
Unter dem Projektor. Eine Kiste mit Verlängerungsschnüren. Ich versorgte Müller, so gut ich konnte.
»Ich muss leider weg. Jeden Moment kommt der Notarzt.«
Ich ging nach oben, öffnete die Haustür sperrangelweit und lief dann zurück ins Wohnzimmer. Durch die Terrassentür verließ ich das Haus.
Auf der Rückseite des Grundstücks gab es einen kleinen Pfad, der auf ein Stück Brachland führte. Ich rannte die knapp zweihundert Meter durch Geröll und niedrige Büsche, bis ich auf eine Straße stieß. Hier war ich vorhin mit dem kleinen Roten entlanggefahren. Ein Stück weiter stand er friedlich
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