Neandermord
Blicken folgten. Als kämen wir geradewegs vom Mars.
Die Pflegerin, der wir zu Raths Zimmer folgten, beachtete die alten Leute nicht. Sie war höchstens zwanzig Jahre alt, steckte in blendend weißer Arbeitskleidung, und wenn man in ihrem Kielwasser schwamm, verdrängte ein feiner Duft aus Duschgel den unangenehmen Geruch um uns herum.
»Herr Rath ist wahrscheinlich gerade beim Essen«, sagte sie.
»Heißt das, er ist gar nicht auf seinem Zimmer?«, wollte Jutta wissen, aber ich deutete nur auf den Rollwagen, der auf dem Gang stand. Darauf stapelten sich die Tabletts mit den Mittagsmenüs, jeweils von einer runden Plastikhaube abgedeckt.
»Herr Rath, Besuch für Sie«, rief die Pflegerin, nachdem sie die Tür geöffnet hatte.
Ein verhutzeltes Männchen im Bademantel an einem Tisch. Auf einem Tablett stand ein Suppenteller mit trüber gelblicher Flüssigkeit.
»Die Herrschaften möchten Sie sprechen.«
Rath sah zu uns auf. Es schien ihm schwerzufallen, den Kopf zu heben. Wahrscheinlich litt er an dieser Krankheit, die einen zwingt, immer gebückt zu bleiben. Nur seine Augen gingen nach oben, als er uns ansah. Er wirkte wie ein verschrumpelter Vogel.
Ich stellte uns vor - wie vorhin als Journalisten.
Rath löffelte langsam weiter. In dem engen Zimmer gab es keine weitere Sitzgelegenheit. Jutta und ich nahmen vor dem Tisch Aufstellung.
»Wir interessieren uns für den Hotelneubau auf Ihrem ehemaligen Grundstück«, erklärte Jutta. »Verstehen Sie, was ich sage?«
Rath nickte und schob den Teller zur Seite. »Natürlich verstehe ich, was Sie sagen, ich bin ja nicht taub«, knarzte er. »Oder halten Sie mich für vertrottelt? Setzen Sie sich doch. Ach so, wieder mal kein Stuhl da. Draußen auf dem Gang finden Sie welche. Und wenn alle besetzt sind, scheuchen Sie ein paar von den Idioten weg. Die Stühle sind auch für die Besucher.«
Ich überließ es Jutta, mit Herrn Rath das Gespräch zu beginnen. Ich fand zwei freie Stühle. Sie waren stapelbar und überraschend leicht.
»Na, beim Aufräumen?«, sagte eine der zahnlosen Alten, die mich beobachteten.
»Muss ja auch mal sein.« Ich trug die Stühle davon.
Als ich das Zimmer betrat, waren Jutta und Rath schon im eifrigen Gespräch. Jutta war in die Hocke gegangen, um mit ihm auf Augenhöhe zu sein.
»Natürlich war das eine Sauerei«, ereiferte sich Rath gerade. »Die Weide war schon seit Ewigkeiten in unserem Besitz. Und wissen Sie, was die mir dafür gegeben haben?«
Ich schob Jutta einen Stuhl unter und setzte mich ebenfalls.
»Die haben behauptet, sie wollten Landwirtschaft betreiben. Keine Rede vom Bauen. Und ich brauchte doch unbedingt das Geld. Erst haben sie gesagt, alle anderen drum herum hätten auch schon verkauft, aber ich hab natürlich nachgefragt. Daher wusste ich, dass das nicht stimmte.«
Raths Vogelaugen rollten. Er hatte sich in Rage geredet.
»Dann haben sie behauptet, die Verkäufe wären zwar noch nicht unter Dach und Fach, aber alle seien bereit dazu … Und ich hab mich immer noch stur gestellt. Ich hab zwei Kinder, die wollen doch auch was erben.«
Zwei Kinder, die sich noch nicht mal um das Haus kümmern, dachte ich. Jutta sah Herrn Rath an und strahlte Verständnis und Anteilnahme aus.
»Und dann ist ja der Mist hier passiert«, schimpfte Rath weiter.
»Welcher Mist?«, fragte Jutta.
»Schlaganfall«, rief Rath. »Plötzlich gelähmt. Furchtbar. Zum Glück konnte ich noch sprechen.«
Ja, zum Glück, dachte ich.
»Und mit dem Laufen klappt’s auch wieder einigermaßen. Aber immer nur zwei Meter auf einmal. Und dann musste ich irgendwas verkaufen, weil ich das Heim und all das ja nicht bezahlen konnte, und dann ist das ganze Grundstück für zwanzigtausend weggegangen. Ich könnte heulen, sage ich Ihnen.«
Ich sah mich im Zimmer um. An die eine Seite passten gerade ein Bett und ein Einbauschrank. Mit drei Schritten war man hier, wo der quadratische Tisch stand. Hinter dem Fenster verlief die Solinger Konrad-Adenauer-Straße. Die Aussicht oben in Haan war schöner gewesen.
Rath las offenbar gern. Über dem Bett hing ein langes, voll gestelltes Regal. Es waren auch Bildbände über das Neandertal dabei. Kein Wunder, wenn man selbst ein Neandertaler ist, dachte ich. Wenn man von dort stammte.
»Vielleicht hat sich die Schroffbach das Grundstück nicht nur wegen der Bauerei unter den Nagel gerissen«, sagte Rath plötzlich in die entstandene Stille hinein. Seine Hand tastete nach unten und brachte ein Papiertaschentuch
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