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Nebel über dem Fluss

Nebel über dem Fluss

Titel: Nebel über dem Fluss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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und mit roter Nikolausmütze auf dem Kopf weit über die Plattform hinten am Bus hinaus und gab sein Mittagessen von sich.
    Natalie war, vom Ruckeln des Busses gewiegt, eingeschlafen, und Karl saß, die Hand fest um den Ärmel ihres Mantels, dicht an sie gedrängt, während er staunend zusah, was um ihn herum vorging. Als der Briefträger sich zu ihm herüberbeugte und eine blitzende Zehnpencemünze hinter seinem linken Ohr hervorzauberte, jauchzte er vor Vergnügen.
    »Was hat er denn da gemacht, der arme kleine Frosch?«,hatte Michelles Mutter gefragt und auf die Schwellung in Karls Gesicht gezeigt.
    »Er ist hingefallen«, hatte Michelle hastig geantwortet. »Du weißt ja, wie er ist.«
    »Ja«, hatte ihre Mutter gesagt. »Wild. Genau wie sein Vater.«
    Als sie die Straße hinauf nach Hause gingen, sahen sie in einigen Fenstern weihnachtliche Lichter brennen, kleine rote und blaue Lämpchen auf Plastikchristbäumen. Eine Nachbarin rief ihnen einen Gruß zu, und Michelle war plötzlich warm ums Herz. Vielleicht war es doch nicht so schlimm, hier zu leben. Wenn sie es über den Winter schafften, könnten sie vielleicht noch einmal von vorn anfangen.
    Sie öffnete die Haustür und rief nach Gary. Sie hatte erwartet, dass er zurück sein würde, aber die Schlange im Wohnungsamt war offenbar länger gewesen, als er geglaubt hatte. Sie zog beiden Kindern frische Windeln an und setzte Karl mit einem Marmeladenbrot vor den Fernseher, um Natalie in Ruhe füttern zu können. Als die Kleine aufgegessen hatte, legte sie sie hin und sah nach dem Feuer, es sollte richtig brennen, wenn Gary nach Hause kam. Dann wollte sie es sich mit einer frischen Kanne Tee gemütlich machen und ein wenig fernsehen.
     
    Das Klopfen an der Tür war kurz und energisch. Im ersten Moment glaubte sie, Gary hätte seinen Schlüssel vergessen, obwohl es gar nicht wie sein Klopfen klang.
    »Michelle Paley?«
    »Ja.«
    »Constable Lynn Kellogg, CID.   Ich würde Sie gern einen Moment sprechen, wenn es geht.«
    Michelle sah den Dienstausweis, das ordentlich frisierte dunkle Haar, die sichere Haltung, Wangen, die im Lichtschein rot wirkten.
    Lynn blickte an Michelle vorbei ins Zimmer: ein frisch angezündetes Feuer, im Fernsehen, leise gestellt, Dracula als Zeichentrickfilm. Davor, auf einem Teppich, der bessere Tage gesehen hatte, lag bäuchlings, beide Beine hinter sich in die Luft gereckt, ein blasser kleiner Junge, der sich blinzelnd umschaute.
    »Es kommt bestimmt kalt rein«, bemerkte Lynn.
    Michelle nickte und ließ Lynn ins Haus. Nachdem sie die Tür hinter sich geschlossen hatte, schob sie gegen die Zugluft einen zusammengerollten Läufer vor die Ritze.
    Lynn knöpfte ihren Mantel auf, legte ihn aber nicht ab.
    »Was ist denn passiert?«, fragte Michelle, die das Schlimmste fürchtete, voll banger Ahnung. »Es geht um Gary, stimmt’s? Ist was mit Gary? Ist ihm was passiert? So sagen Sie schon.«
    »Wollen wir uns nicht setzen?«, meinte Lynn.
    Michelle schwankte ein wenig, als ihr die Knie weich wurden.
    »Ihm ist nichts passiert«, versicherte Lynn. »Keine Sorge, es ist nichts dergleichen.«
    Nun setzte sich Michelle doch. Beklommen, eine Hand auf die Armlehne gestützt, ließ sie sich auf das Sofa hinunter. »Dann hat er wohl Ärger bekommen«, sagte sie.
    »Er ist auf der Dienststelle«, erklärte Lynn. »Canning Circus. Er wurde heute Nachmittag festgenommen.«
    »O Gott, weshalb denn?«
    Lynn bemerkte, wie der kleine Junge sich aufrichtete und gespannt lauschte. »Es kam im Wohnungsamt zu einem Zwischenfall   –«
    »Zu einem Zwischenfall? Was für einem –?«
    »Offenbar hat er das Personal bedroht und dann eine der Angestellten in einem abgeschlossenen Zimmer festgehalten.«
    Aus Michelles Gesicht war die Farbe gewichen.
    »Ich weiß noch nicht«, fuhr Lynn fort, »ob man ihn über Nacht dabehalten wird. Aber es ist möglich. Wir wollten Ihnen auf jeden Fall Bescheid geben.«
    »Kann ich ihn sehen?«
    »Später. Ich lasse Ihnen eine Nummer da, die Sie anrufen können.«
    Oben begann die Kleine zu weinen und hörte dann abrupt wieder auf.
    »Hat er zugeschlagen?«, fragte Michelle.
    »Anscheinend nicht. Diesmal nicht, nein.«
    »Was wollen Sie damit sagen?«
    »Es wäre nicht das erste Mal gewesen. Er ist doch auf Bewährung.«
    »Ja, aber was da passiert ist, das ist ewig her.«
    »Ein Jahr.«
    »Aber er hat sich geändert. Wirklich, Gary ist jetzt ganz anders.«
    »Ja?«
    Karl schaukelte vor dem Fernseher hin und her, während auf

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