Nebel über dem Fluss
Notdienst versuchen.«
Nicht mehr lang, allerdings, dachte er. Gerüchten zufolge sollte der Notdienst mit der nächsten Kürzungswelle abgeschafft werden. Was heißen würde, dass Kinder wie der kleine Karl bis nach den Weihnachtsfeiertagen warten mussten.
An der Tür blieb Lynn stehen. »Behalten wir Gary James hier, Sir?«
Resnick verzog das Gesicht. »Es ist Weihnachten. Lieber nicht, wenn es sich irgendwie vermeiden lässt.«
»Aber wenn das Wohl des Kindes auf dem Spiel steht?«
»Ich weiß. Schicken wir jemanden hin, lassen den Jungen zum Arzt bringen und gründlich untersuchen. So lange muss der gute Gary schmoren.«
»Gut.« Draußen schallten Lynn Divines wieherndes Lachen und die Sirene eines Rettungswagens entgegen, der unten auf der Straße vorbeifuhr, ein weiteres Opfer der vorweihnachtlichen Festivitäten auf dem Weg ins Krankenhaus. Vor ihrem Schreibtisch blieb sie stehen und blickte zurück zur offenen Tür von Resnicks Büro. »Meinen Sie, es hätte Sinn, mit seinem Bewährungshelfer zu sprechen? Das könnte vielleicht einiges klären.«
»Versuchen können Sie’s ja«, sagte Resnick, aber seineMiene verriet, dass er es für Zeitverschwendung hielt. Die Beziehungen zwischen Polizei und Bewährungshilfe waren beiderseits nicht gerade von Vertrauen geprägt, und der Zeitpunkt war nicht der günstigste.
»Ich werde mich auf jeden Fall mal erkundigen«, meinte Lynn. »Mal sehen, wer sein Bewährungshelfer ist.«
»Pam Van Allen«, sagte Resnick, und Lynn zog die Brauen hoch. »Ich habe vorhin mit Neil Park telefoniert.«
»Aber mit Van Allen haben Sie nicht gesprochen, Sir?« Resnick schüttelte den Kopf. »Macht es Ihnen was aus, wenn ich …?«
»Nein, nein, nur zu.«
Resnick, der sich wieder an seinen Schreibtisch gesetzt hatte, schloss einen Moment die Augen; er sah sie vor sich, Pam Van Allen mit grauem Haar, das im Licht silbrig glänzte, wie sie nach einer missglückten Besprechung davonging. »Das ist die Anspannung, Charlie«, hatte Neil Park, ihr Vorgesetzter, später gesagt. »Ein Mann, noch dazu ranghöher als sie, der gewöhnt ist, den Leuten zu sagen, was sie zu tun haben, und erwartet, dass sie es tun – so was reizt sie.« Resnick war ziemlich sicher, dass er bei der Frau kein Glück haben würde. Wenn Lynn mit ihr reden konnte, um so besser. Er merkte plötzlich, dass er das Telefon anstarrte, halb versucht, dennoch selbst anzurufen.
»Sir.« Lynn klopfte und öffnete die Tür weit genug, um ihn sehen zu können. »Sie ist schon nach Hause gefahren. Kommt erst nach den Feiertagen wieder.«
»Na schön«, sagte Resnick, »dann warten wir mal ab, was der Sozialdienst uns sagen kann. Ach, und Lynn …«
»Ja?«
»Was die Sache bei Ihnen zu Hause angeht – ganz gleich, was es ist – wenn Sie darüber reden wollen …«
Zum ersten Mal seit einer ganzen Weile konnte sie beinahe lächeln. »Danke.«
Drüben im Dienstraum läutete schon wieder ihr Telefon. Jemand summte ›Stille Nacht‹. Mit einem rot-grünen Papphütchen auf dem Kopf und einem hoffnungsvoll wippenden Mistelzweig im Knopfloch las Divine etwas aus dem Computer vor.
6
»Und was war das für ein Typ?« Die Stimme von Nancys Mitbewohnerin Dana ging beinahe unter im Rauschen und Prasseln der Dusche.
»Was war wer für ein Typ?«
»Na, der Kerl, der sich mit dir eingesperrt hat, natürlich.«
Nancy streckte den Kopf unter dem Wasserstrahl hervor. Umrisshaft konnte sie durch den dicken geblümten Plastikvorhang Dana erkennen, die auf dem Klo saß und pinkelte. Vor einem halben Jahr, als sie zusammengezogen waren, wäre Nancy, nun ja, nicht schockiert, aber ganz sicher peinlich berührt gewesen. Sie hätte auch nicht mit der Selbstverständlichkeit wie jetzt die Dusche abgestellt und den Vorhang aufgezogen, um auf die Fliesen hinauszutreten und sich abzutrocknen.
»Also?« Dana sah zu ihr auf. »War er wenigstens sexy?«
Nancy lächelte wenig amüsiert. »Das kann ich nicht behaupten.« Sie erinnerte sich an das dünne Haar, den kaum erkennbaren Flaum über dem Mund, den schwitzenden Körper, die nervöse Unruhe der Hände, die tiefliegenden Augen. »Außerdem spielt Sex in solchen Situationen nun weiß Gott keine Rolle.«
»Nein?« Dana riss einen langen Streifen Toilettenpapier ab und faltete ihn mehrmals, bevor sie sich zwischen den Beinen abtupfte. »Ich hätte das Gegenteil gedacht.«
Nancy frottierte energisch ihre Haare. »Ja, weil Sex für dich immer und überall eine Rolle
Weitere Kostenlose Bücher