Nebel über dem Fluss
erklärte Lynn.
Gary ignorierte sie schon wieder, war ganz auf Michelle konzentriert. »Warum hast du mir das nicht erzählt?«
»Ich weiß auch nicht. Als du heimgekommen bist, hab ich mich so gefreut, da hab ich’s wahrscheinlich einfach vergessen.«
»Wie kannst du so was vergessen? Die Scheißbullen –«
»Es war ja nichts Wichtiges«, sagte Lynn. »Ich bin nur vorbeigekommen, um Michelle zu sagen, wo Sie sind.«
Gary, der seinen Becher abgestellt hatte, ergriff ihn jetzt mit so heftiger Bewegung, dass heißer Tee auf seine Hand spritzte. Ein Schluck, und er kippte das Getränk ins Spülbecken. »Das soll Tee sein? Das ist das reinste Spülwasser.«
»Ich mache frischen«, sagte Michelle und griff schon nach dem Kessel.
»Spar dir die Mühe.«
Gary brüllte, im Wohnzimmer dröhnte der Fernseher und oben begann ein Kind zu schreien.
»Das ist die Kleine«, sagte Michelle und stellte den Kessel wieder hin.
»Wie immer«, knurrte Gary.
»Gary, das ist nicht fair.«
Gary ging ins Wohnzimmer zurück, ohne sich um Natalies Weinen zu kümmern. Michelle sah Lynn unsicher an.
»Gehen Sie nur rauf«, sagte Lynn. »Ich mache inzwischen den Tee.«
Als Lynn mit drei Bechern frischen Tees auf einem Brotschneidebrett, das ihr als Tablett diente, wieder ins Wohnzimmer kam, saß Michelle mit dem unruhigen Säugling an der Brust in einem Sessel mit geschwungenen hölzernen Armlehnen. Gary hockte in stummer Verbissenheit auf dem Sofa vor dem Fernseher.
Lynn trank ihren Tee, unterhielt sich mit Michelle über Natalie und bemühte sich, den Ton möglichst locker zu halten. Sie wäre gern nach oben gegangen, um sich Karl anzusehen, aber sie wusste, dass Gary das nicht zulassen würde. Besser, sie sprach noch einmal mit dem Sozialarbeiter, diese Leute hatten die Ausbildung und die Erfahrung, die in so einem Fall nötig waren.
Als sie sich verabschiedete, brachte Michelle sie zur Tür,Gary blieb auf dem Sofa liegen und brummte etwas, was vielleicht Wiedersehen hieß.
»Wenn Sie jemanden zum Reden brauchen, melden Sie sich. Rufen Sie mich an. Ja?«, sagte Lynn leise, als sie an Michelle vorbei zur Tür hinausging.
Michelle trat hastig wieder ins Haus und schloss die Tür vor der Kälte.
Als sie später mit dem Rücken zu Gary im Bett lag und seinen pfeifenden Atemzügen lauschte, konnte sie nicht einschlafen, weil sie dauernd daran denken musste. Nicht an Garys wütendes Geschimpfe darüber, dass sie es gewagt hatte, ihm etwas zu verheimlichen; nicht an die Schmerzen von dem Schlag in die Rippen, den er ihr verpasst hatte. Nein, sie musste an das denken, was er gesagt hatte, als die Polizistin ihn gefragt hatte, ob er am Abend, am Weihnachtsabend, noch einmal ausgegangen sei. Warum hatte er gelogen?
13
»Kevin?«
»Psst.«
»Wie spät ist es?«
»Früh. Schlaf weiter.«
»Die Kleine …«
»Ich habe sie gefüttert und sie ist wieder eingeschlafen.«
Debbie drehte sich zur Seite, das Gesicht zum Kissen. Es war dunkel im Zimmer, nicht einmal durch den Spalt zwischen den Vorhängen, oben, wo sie nicht ganz zusammentrafen, drang ein Lichtschein.
»Du hast Frühschicht«, murmelte sie.
»Ja.« Angekleidet bis aufs Jackett, setzte sich Kevin neben ihrem bloßen Arm auf die Bettkante.
»Tut mir leid. Ich hab’s vergessen.«
Lächelnd streichelte Kevin ihre Schulter. »Das macht doch nichts.«
»Sonst warst du da immer sauer.«
»Wann?«
Als sie langsam den Kopf hob, zog sich ein dünner Speichelfaden vom Kissen zu ihrem Mundwinkel und zerriss. Ihr Mund war feucht und warm und ihr Atem schal vom Schlaf. »Wenn ich deinen Dienstplan vergessen habe und nicht wusste, wann du los musst.«
»Ich war fast dauernd sauer.« Er hielt einen Moment inne. »Ich liebe dich«, sagte er.
»Ich weiß.« Debbie legte ihm den Arm um den Hals und zog ihn an sich. Das Snoopy- T-Shirt , das sie zum Schlafen trug, verrutschte und der Ausschnitt entblößte eine ihrer Brüste.
»Ich komme zu spät.«
»Ich weiß«, sagte Debbie und küsste ihn heftig, dann ließ sie ihn gehen.
Als er die Haustür hinter sich zuzog und auf die Straße hinaustrat, überkam ihn wieder das jetzt schon vertraute Gefühl kalten Erschreckens: Wie nahe war er daran gewesen, das alles zu verlieren, kampflos aufzugeben.
Resnick erwachte kurz vor vier, um fünf stand er schließlich auf. Als er für Dizzy die Gartentür öffnete, strolchte der schwarze Kater mit federndem Schritt und aufgestelltem Schwanz herein, als wäre das nichts
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