Nebel über dem Fluss
Streichholz auf den Fußboden fallen.
»Wo waren Sie gestern Abend?«, fragte Lynn. »Sie wissen genau, wo ich gestern Abend war, verdammt noch mal.«
»Nach Ihrer Freilassung.«
»Na, was glauben Sie wohl, wo ich da war?«
»Ich habe Sie etwas gefragt.«
»Hier natürlich. Gottverdammte Scheiße, wo soll ich sonst gewesen sein?«
Michelle, die an der Tür stand, presste die Lippen zusammen. Wenn Gary nur nicht immer so unbeherrscht wäre.
»Sie waren also den ganzen Abend hier?«
»Ja.«
»Von wann an?«
»Ich möchte jetzt erst mal wissen, um was es hier eigentlich geht.«
»Von wann an waren Sie hier?«
»Von dem Moment an, als ihr Schweine mich endlich wieder freigelassen habt.«
»Und um welche Zeit war das?«, fragte Lynn. »Um acht? Halb neun?«
»Es war zwanzig vor neun«, sagte Michelle. »Ziemlich genau. Ich weiß es noch.«
Gary sah sie an, als wollte er ihr gleich wieder den Mund verbieten, aber dann runzelte er nur wütend die Stirn.
»Und Sie sind nicht noch einmal weggegangen?«
»Hab ich das nicht gerade gesagt?«
»Nicht direkt.«
»Gut –« Er ging jetzt auf sie zu, trat dicht an sie heran – »dann sag ich’s Ihnen jetzt noch mal ganz direkt. Ich bin heimgekommen und habe keinen Schritt mehr aus dem Haus gemacht. Bis heute Morgen. Ist das klar?«
Sein Atem, der feuchtwarm ihr Gesicht berührte, roch nach Tabak, Bier und Essen.
»Und Nancy Phelan?«
»Wer?« Aber an seinem Blick erkannte sie, dass er Bescheid wusste.
»Nancy Phelan.«
»Ja, und weiter?«
»Sie wissen also, von wem ich spreche?«
»Ja, klar.«
»Haben Sie sie gesehen?«
»Wann?«
»Gestern.«
»Sie wissen verflucht noch mal –«
»Nicht auf dem Wohnungsamt. Später.«
»Wann denn?«
»Irgendwann.«
»Nein.«
»Sie haben Nancy zu keiner anderen Zeit gesehen?«
»Nein.«
»Auch nicht am Abend? Gestern, später am Abend. Am Weihnachtsabend?«
»Ich hab’s Ihnen doch gerade gesagt. Ich bin nicht mehr weg gewesen.«
Michelle stand immer noch an der Tür. »Wie trinken Sie Ihren Tee?«, fragte sie.
»Was glaubst du wohl, wie sie ihn trinkt? Aus einer verdammten Tasse.«
»Ich meinte, nehmen Sie Zucker?«
»Einen Löffel, bitte.«
Gary wandte sich wütend ab. Er ist noch nicht einmal richtig erwachsen, dachte Lynn. Er ist viel jünger als ich. Und sitzt mit einer Frau und zwei Kindern am Bein hier in diesem Loch fest. Wie alt mag er sein? Neunzehn? Zwanzig? Einundzwanzig? Ist es ein Wunder, dass er den starken Mann markieren muss? Gerade mir gegenüber. Wenn an meiner Stelle Divine hier wäre, oder Kevin Naylor, würde er sich bestimmt nicht so aufführen. Jedenfalls nicht in ihrem Beisein. Er würde die Wut in sich hineinfressen und erst später herauslassen.
Sie dachte an den Schatten der Furcht auf Michelles Gesicht. An Karls Verletzungen.
Auch wenn die Verletzungen zur Geschichte der Mutter, dass der Junge blindlings in eine Tür gerannt war, nicht in Widerspruch standen.
»Kommen Sie, ich helfe Ihnen mit dem Tee«, sagte sie zu Michelle.
»Nicht nötig«, erklärte Gary, hinderte sie aber nicht daran, in die Küche zu gehen.
Michelle goss zuerst die Milch ein, haltbare Milch aus dem Karton, dann den Tee. Ein Beutel, schätzte Lynn, für eine große Kanne.
»Was machen die Kinder?«, fragte Lynn.
»Die schlafen, Gott sei Dank. Sie waren völlig überdreht vor lauter Weihnachten und Geschenken.«
»Und Karl?«
Michelle, die gerade den Zucker in den Tee gab, hielt inne.
»Wie geht es Karl?«
»Der Arzt hat gesagt –«
»Ich weiß, was der Arzt gesagt hat.«
»Mehr gibt’s nicht zu erzählen. Es geht ihm gut.«
»Er war verletzt.«
»Es war ein Unfall. Er –« Michelles Blick flog zur Tür, als drüben der Fernseher eingeschaltet wurde.
»Vorsicht, der Zucker«, sagte Lynn.
»Was?«
»Sie verschütten den Zucker.«
Lynn nahm ihr den Löffel aus der Hand und rührte den dünnen Tee in einem der Henkelbecher um.
»Ich habe ihm das nicht erzählt«, flüsterte Michelle gehetzt. »Ich habe ihm nichts davon gesagt.«
»Von was hast du mir nichts gesagt?«, fragte Gary aus dem Flur und trat in die Küche.
»Hier.« Lynn reichte ihm einen Becher. »Ihr Tee.«
»Von was hast du mir nichts gesagt?« Er beachtete Lynn gar nicht, sah nur Michelle misstrauisch an.
Michelle griff sich an den Hals.
»Als ich gestern hier war –«, begann Lynn.
»Das hör ich zum ersten Mal, dass Sie gestern hier waren.«
»Eben. Davon hat Michelle gerade gesprochen«,
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