Nebelflut (German Edition)
der Narbe!«
»Sie meinen …«
»Ja.« Brady nickte. »Ist die Fahndung schon rausgegangen? Vielleicht ist er nicht nur ein wichtiger Zeuge, sondern auch Opfer!«
»Am Freitag ist das Bild an alle Einheiten gegangen, heute Morgen ist es in der Zeitung erschienen«, erklärte Sean. Er wirkte skeptisch.
»Ich werde mich noch mal in Brittas umhören.«
»Tu was du nicht lassen kannst«, sagte Sean, dann wandte er sich an Kilian. »Dann können Sie den Namaras mitteilen, dass der Tod ihrer Tochter jetzt zweifelsfrei belegt wurde.«
»Ich? Es ist Silvester und–«
»Sie wollen sich doch nützlich machen. Also los.« Damit war das Thema für Sean erledigt und Brady war heilfroh, dass ihm diese furchtbare Aufgabe nicht zugekommen war.
-21-
Am Silvestermorgen warteten, trotz des bevorstehenden Feiertages, bloß eine Handvoll Patienten auf Patrick, vorwiegend Großmütterchen, die zu kichern anfingen, sobald er nur den Kopf ins Wartezimmer steckte. Ein paar davon waren erkältet, die anderen hatten einfach Langeweile und erzählten ihm lang und breit von ihren Rückenschmerzen, ihren Gichtfingern und den geschwollenen Lymphknoten, die nur sie selbst ertasten konnten.
»Hier, Doktor, sehen Sie?« Die alte Dame auf seinem Behandlungstisch hatte sich bis auf den BH ausgezogen und wies auf einen Ausschlag, der sich von ihren Rippen über die Taille bis zum Becken zog.
»Bitte?« Patrick blickte auf und stellte erschrocken fest, dass er keine Ahnung hatte, weshalb sie hier war. Zwar hatte sie, seit sie ins Behandlungszimmer gekommen war, ununterbrochen geredet, doch er hatte schlicht und einfach abgeschaltet, nicht zugehört.
»Hier, dieser Ausschlag. Sehen Sie?«
»Ja, natürlich. Wann ist er Ihnen zum ersten Mal aufgefallen?«
Die Patientin kniff ihre spärlichen Augenbrauen zusammen. »Dienstag. Sagte ich doch bereits.«
»… lassen Sie mich mal sehen.«
»Tue ich ja.«
Patrick überging die verärgerte Bemerkung der Frau und nahm ein paar Latexhandschuhe aus dem Spender. Er schlüpfte mühelos hinein, dann das Maisstärkepulver sorgte dafür, dass die Finger nicht zusammenklebten. Der Mörder des bärtigen Mannes auf der Farm hatte Handschuhe wie diese benutzt, vielleicht das gleiche Fabrikat. Vielleicht ein Paar aus der gleichen Packung …
»Kriegen Sie das heute noch hin, Doktor? Ich habe wirklich nicht ewig Zeit.«
»Sicher, ich …« Er gab sich einen Ruck und wandte sich der Frau zu, betastete vorsichtig die Pusteln an ihrem Körper. Vermutlich hatte sie an den Weihnachtstagen einfach anders gegessen als sonst und sich eine Lebensmittelallergie eingehandelt. Es war nicht bedrohlich, doch die Patientin wirkte enttäuscht von dieser Diagnose. Nachdem er geschlagene zehn Minuten versucht hatte, ihr klar zu machen, dass der Ausschlag auch ohne Medikamente weggehen würde, zog sie endlich ab. Patrick ließ sich auf seinen Schreibtischstuhl fallen und gönnte sich eine Minute Pause. Er hätte seinen Vater als Landarzt von Glencullen ablösen sollen, dann würde er heute den Großteil des Tages im Auto verbringen und hätte seine Ruhe. Andererseits würde das auch bedeuten, dass er in diesem Dorf festsitzen und all die Erinnerungen, die er am liebsten löschen würde, jeden Tag vor Augen hätte.
»Doc? Ich schicke die Nächste rein.« Felicia, seine Sprechstundenhilfe, klang fröhlich wie immer. Sie war eine übergewichtige Dreifachmutter, die froh war, dass sie wieder einen Job gefunden hatte. Dazu noch einen, bei dem sie nicht viel mehr tun musste, als herum zu sitzen und freundlich zu sein.
Patrick drückte auf den Knopf der Gegensprechanlage. »Ja, tun Sie–« Das Telefon schrillte und er brach ab. »Nein, warten Sie noch einen Augenblick. Ich habe hier ein Telefonat.«
Wer die offizielle Nummer seiner Praxis anrief, landete normalerweise bei Felicia an der Rezeption. Seine direkte Durchwahl hatten nur Grace und seine Eltern. Hektisch griff er nach dem Hörer. »Namara?«
»Patrick?« Seine Mutter, schluchzend und völlig aufgelöst.
»Ja, ich bin am Apparat.« Schlagartig fühlte sich seine Kehle an wie zugeschnürt. Er wusste, dass etwas geschehen war und einem Teil von ihm war klar, was seine Mutter sagen würde, noch bevor sie es tat.
»Sie haben …« Der zweite Teil des Satzes ging in Evelyns lang gezogenem Schluchzen unter. »… ihre Überreste gefunden, Patrick.«
Patrick schloss die Augen und umklammerte den Hörer fest, damit er ihm nicht aus der Hand rutschte.
»Sie war auf dieser
Weitere Kostenlose Bücher