Nebelflut (German Edition)
werfen?«
»Aber sicher doch. Folge mir.« Finn vollführte eine kunstvolle Drehung und schob ein paar Beamtinnen zur Seite. »Platz machen, Manege frei. Taadaa.«
Finn deutete auf eine Frau um die vierzig oder fünfzig. Sie lag in einem blutverschmierten Nachthemd auf einem Haufen kaputter und gesprungener Grabsteine und hatten den leeren Blick gen Zeltdecke gerichtet. Ihre Wangenknochen waren hohl und sie hatte tiefe Ringe unter den Augen. In ihrer Stirn klaffte eine dunkel geränderte Wunde, in deren feuchter Tiefe sich schon Fliegen eingenistet hatten. Auch in den Augenhöhlen hatten sie ihre weißlichen Eier abgelegt. Normalerweise war auch der Mund einer Leiche eine willkommene Brutstätte für Ungeziefer, doch davor hatte der Mörder die Frau bewahrt – ihre Lippen waren mit dicken, metallenen Nadeln zusammengetackert worden.
»Es hat ihr Teile des Knochens weggerissen, deswegen sieht der Schädel etwas alienhaft aus. Die Austrittswunde ist aber viel schlimmer, sei froh, dass sie auf dem Rücken liegt. Da hinten gähnt ein riesiges Loch. Das Hirn scheint am Tatort komplett ausgelaufen zu sein, hier haben wir nur ein paar Blutklumpen und Knochensplitter finden können.«
»Ah, danke.« So genau wollte es Brady eigentlich nicht wissen. Er sog die erdige Luft ein und zwang sich dann, durch den Mund weiter zu atmen. »Der Fundort stimmt also nicht mit dem Tatort überein?«
»Ganz recht.« Fallon nickte. »Es wurde auch eine andere Waffe als beim letzten Mord benutzt. Ansonsten deutet einiges auf den gleichen Täter hin: Die Frau wurde gefoltert, wenn auch halbherziger als das erste Opfer. Es sieht aus, als wäre ein paar Mal mit voller Wucht auf sie eingedroschen worden, außerdem hat sie Quetschungen, die wieder von einer Zange stammen könnten.
»Was hat dieser Kerl für ein Zangen-Problem?«
Fallon zuckte die Achseln. »Eure Baustelle.«
»Gab es wieder keine Papiere?«
»Soweit ich weiß, nichts. Nicht einmal eine ärztliche Visitenkarte.« Finn grinste.
»Wisst ihr sonst noch was?« Brady wandte sich ab und ging ein paar Schritte. Trotz der frischen Luft war der Gestank kaum auszuhalten.
»Die Leiche ist schon älter. Vier Tage oder so.«
Brady rechnete im Kopf nach. »Dann ist sie Silvester gestorben?«
Fallon zuckte mit den Achseln. »Was gibt es für ein besseres Datum, um jemanden zu erschießen?«
Finn Fallon hatte recht. Auch wenn in Irland allgemeines Feuerwerksverbot galt, so gab es doch Ausnahmegenehmigungen. Zwischen der Knallerei wäre ein Schuss kaum aufgefallen. »Ganz schön clever.«
»Ist nur meine Vermutung.«
»Sind hier Feuerwerkskörper oder Überreste davon gefunden worden?«
»Nein. Willst du sehen, was wir stattdessen haben?«
Brady war dankbar, die Leiche hinter sich lassen zu können. Der Rechtsmediziner präsentierte ihm mit dem Stolz eines Museumsbesitzers eine Reihe von Beweismitteln in durchsichtigen Tütchen. Ein benutztes Kondom, ein paar Zigarettenkippen, zwei Dosen eines Mixgetränkes mit Gin, einen alten Schnürsenkel und ein hellblondes Haar.
Brady kniff die Augenbrauen zusammen und nahm Finn den Beutel mit dem Haar aus der Hand. Irgendwo hatte er dieses helle, fast weiße Haar schon einmal gesehen …
»Mach dir nicht zu große Hoffnungen, Sportsfreund. Saint Anne’s ist ein Touristenmagnet. Wahrscheinlich gehört nichts davon zu unserem Täter.«
»Dieses Haar …« Plötzlich fiel es Brady ein. Das Haar des jüngeren Simmon-Bruders war weißblond. Als er Toby in der Pension begegnet war, hatte er ihn für einen Norweger oder Schweden gehalten. Die helle Haut und vor allem das extrem blonde Haar hatten ihm direkt ins Auge gestochen.
»Wir überprüfen im Labor, ob es gefärbt ist. Aber es sieht nicht so aus. Die Haarwurzel–«
»Das meine ich nicht. Kann ich es kurz haben?« Aufregung stieg in Brady hoch. Er wollte Sean unbedingt seinen Fund zeigen.
»Tut mir Leid.« Finn schüttelte den Kopf. »Wir können es zusammen unter dem Mikroskop ansehen. Ich habe immer eins dabei, man weiß ja nie, wozu es gut ist. In Fällen wie diesem scheinbar …«
Brady hörte nicht weiter zu. In seinem Kopf baute sich die Szenerie vom Vortag auf. Die Lodge, die beiden Brüder, der riesige Koffer und Nates vage Antworten. Die beiden hatten gar nicht verreisen wollen. Sie waren dabei gewesen, eine Leiche wegzuschaffen!
»Sean??« Brady kämpfte sich aus dem Zelt heraus und ließ Finn verdutzt stehen. Sein Partner saß auf einem großen Felsen und schaute über
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