Nebelflut (German Edition)
ruhen.
»Weißt du, dass Kinder fühlen, wenn es ihren Eltern nicht gut geht?«
Patrick blickte an die Decke und sagte nichts. Ihm war nicht nach Reden und nach seinem Auftritt auf der Beerdigung konnte er ihr auch nicht länger vormachen, dass alles okay mit ihm war.
»Patrick.«
»Dann mach diesem Cal klar, dass er aufhören soll, dich zu stalken, wie wäre das?«
»Kannst du mir nicht einfach vertrauen? Ich mache mir doch auch keine Sorgen wegen Felicia.«
»Felicia ist zweiundfünfzig.«
»Und Cal einundzwanzig.« Patrick erwiderte nichts und hörte Grace durchatmen. »Es ist nichts zwischen ihm und mir, okay? Er ist Kindergärtner. Vermutlich ist er schwul.«
Patrick gab sich einen Ruck und blickte Grace an. »Vielleicht habe ich überreagiert.«
Grace blickte ihm fest in die Augen. »Und auf der Beerdigung hast du dich auch nicht gerade von deiner besten Seite gezeigt.«
»Das ist im Moment die einzige Seite, die ich fehlerfrei hinbekomme, Gracie. Aber ich arbeite daran.«
»Ich bin für dich da.«
»Ich weiß.« Er nahm sie in den Arm und zog sie an sich.
Grace legte den Kopf auf seine Brust. »Alle Kinder haben Angst vorm schwarzen Mann«, flüsterte sie.
Er wusste das. Er wusste es nur zu gut.
-37-
Die Mahlzeiten waren am schlimmsten. Sie mussten darauf achten, dass ihre Kleider absolut sauber waren, auf die Minute pünktlich sein und sich gerade hinsetzen. Dann mussten sie die Hände falten und ein Tischgebet sprechen. Anschließend mussten sie lächeln, bis das Essen vorbei war. Sie mussten sowieso immer lächeln, wenn sie Mary entgegen traten.
Während sie aßen, musste jeder von ihnen eine Hand auf die Tischplatte legen und wenn sie das Lächeln vergaßen, oder wenn irgendetwas das Lächeln aus ihrem Gesicht fegte, schlug ihnen Douglas mit seinem Rohrstock auf die Finger. Die ganze Zeit über schlich er um sie herum und wartete nur darauf, dass sie einen Fehler machten. Amy fragte sich, ob er nie aß, aber eigentlich kannte sie die Antwort. Er war der schwarze Mann, der schwarze Mann war ein Monster oder ein Geist oder etwas noch Schlimmeres. Der schwarze Mann ernährte sich, und das hatte sie von ihrem Dad gelernt, von Kindern. Er stahl sich nachts in ihre Zimmer, stand an ihren Betten und suchte sich die Unartigsten aus. Und dann, wenn keiner hinsah, nahm er sie still und heimlich mit. Amy wollte nicht von dem schwarzen Mann gefressen werden, sie wollte nicht einfach so verschwinden. Sie wollte zurück nach Hause, zu ihrer Familie, und ihnen sagen, dass es ihr gut ging.
Zischelnd sauste der Rohrstock auf ihre Finger.
Mary seufzte. »Du bist wieder mal mit den Gedanken woanders.«
Amy strengte sich an, das Lächeln wieder aufzusetzen, auch wenn Tränen in ihren Augen brannten. Sie wollte hier weg, sie wünschte es sich ganz fest, aber nichts geschah.
»Iss weiter!«
Sie spießte ein paar Erbsen auf ihre Gabel auf und steckte sie sich in den Mund. Es gab meistens Erbsen oder Bohnen und dazu weiches, braunes Fleisch, das sie kaum herunter bekam.
»Wo soll das mit dir noch enden, meine kleine Albia?«
»Ich heiße Am–«
Wieder der Rohrstock. Die Kinder versteiften sich. Amy wollte schreien, aber sie tat es nicht. Sie wusste, dass Schreien strengstens verboten war und dass darauf eine noch viel schlimmere Strafe stand.
»Du heißt Albia!« Marys Stimme klang jetzt nicht mehr so nett und sanft und sie lächelte auch nicht mehr.
»Ich heiße Amy Namara und wohne an der Barrack Road in Glencullen. Meine Eltern–«
Wieder ein Schlag. Amy konnte die Tränen nicht länger zurückhalten. Sie machte die Augen ganz fest zu, aber sie fing trotzdem an zu weinen.
» Wir sind deine Eltern, Albia!«
»Ihr seid nicht meine Eltern, du bist bloß eine alte Hexe!« Sofort bereute sie ihre Worte. Sie biss sich auf die Lippe und starrte Mary an. Neben ihr sauste der Rohrstock durch die Luft, aber Mary hob die Hand und der schwarze Mann stoppte kurz vor ihrer aufgeplatzten Haut. Amy hoffte, dass sie nicht blutete. Beim letzten Mal hatte sie ihr Blut mit einem weißen Pulver vom Tisch scheuern müssen, das in den Wunden brannte.
»Jeder räumt seine Sachen selber weg«, hatte Mary damals fröhlich gemeint. Heute war sie nicht fröhlich. »Das ist nicht Strafe genug.« Ihre Stimme war ganz leise und zittrig wie das Miauen der Nachbarskatze zu Hause, wenn man sie beim Schlafen störte. »Offensichtlich müssen wir Albia härter bestrafen, denn gelogen wird in meinem Haus nicht.«
Der Rohrstock
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