Nebelflut (German Edition)
hatte er seine Eltern gesehen, die panisch nach ihm suchten, die alles noch einmal von vorne durchstehen und schließlich akzeptieren mussten, dass sie nun auch ihr zweites Kind verloren hatten. Er hatte die Vorstellung nicht ertragen. Er war nach Hause gerannt, hatte sich ins Haus geschlichen, ohne dass sie seinen Ausflug bemerkten, und sich geschworen, dass er ihnen niemals Kummer machen würde.
Er war ein mustergültiger Schüler, fast ein Streber geworden, danach ein hervorragender Student, hatte in der Blinddarmpatientin Grace Oldmore früh die richtige Frau gefunden und eine Familie gegründet. Er hatte alles getan, damit seine Eltern sich nie wieder sorgen mussten. Bis gestern hatte das funktioniert.
»Sie müssen aus den nassen Sachen raus, Mister Namara.« Sophie zerrte an seiner Jacke, dann packte sie ihn am Arm und versuchte, ihn in die Höhe zu ziehen. »Jetzt kommen Sie doch …«
»Sophie?«
Sie hielt inne und er spürte ihren Blick auf sich ruhen.
»Ich habe es versaut.«
Sie hielt in der Bewegung inne, dann setzte sie sich neben ihn. »Was haben Sie versaut?«
»Alles. Ich habe alles falsch gemacht.«
»Was meinen Sie …?« Noch immer blickte sie ihn an.
»Ich verliere meine Frau, mein Kind, meine Praxis … Alles rinnt mir durch die Finger.«
Sophie sagte nichts. Ihre Blicke trafen sich, doch der Ausdruck in ihren Augen war undeutbar und linderte das schlechte Gefühl, das von ihm Besitz ergriffen hatte, nicht im Geringsten. Es hockte wie ein Dämon in seinen Eingeweiden und riss ihn von innen in Stücke.
»Haben Sie sich schon mal in etwas verrannt und einfach keinen Ausweg gesehen, Sophie?«
Sophie blickte ihn lange an, dann tat sie plötzlich etwas Überraschendes. Sie beugte sich zu ihm herüber und strich ihm das nasse Haar aus der Stirn. »Es gibt immer einen Ausweg. Sie müssen nur daran glauben. Und jetzt kommen Sie.«
Sie stand auf und versuchte erneut, ihn in die Höhe zu ziehen, doch er löste sich vorsichtig aus ihrem Griff.
»Ich kriege das schon allein hin. Danke.«
-63-
Sobald Bradys Kopf das Kissen berührt hatte, war er hellwach. Er zwang sich zur Ruhe, wälzte sich von einer Seite auf die andere, aber die Geschehnisse wollten ihn nicht loslassen. Er konnte einfach keinen Schlaf finden. Immer wieder ertappte er sich dabei, wie er mit offenen Augen in die Dunkelheit stierte und den Fall durchging. Zwischendurch nickte er ein, nur um nach wenigen Minuten aufzuschrecken und die Fakten erneut durchzukauen. Egal wie sehr er sich zwang sind nicht zu bewegen, es juckte ihn am ganzen Körper. Ihm war heiß und kalt gleichzeitig und Unruhe durchzuckte ihn wie Elektroschocks.
Es half nichts. Brady schlug die Decke zur Seite, stand auf und ging auf die Toilette. Danach würde er sich noch einen letzten Schlafversuch gönnen – sollte dieser wieder missglücken, dann würde er einfach aufstehen. Aufstehen und was machen? Das könnte er sich immer noch dann überlegen.
Die Toilettenspülung war laut und machte ihn endgültig wach. Resignierend schlurfte er in die Küche und setzte Kaffee auf. Die Digitaluhr am Herd zeigte an, dass es kurz nach zwölf war. Die halbe Nacht lag noch vor ihm und er langweilte sich jetzt schon. Vielleicht sollte er Chloe anrufen? Sie würde sich sicher bedanken, wenn er sie um diese Uhrzeit weckte, doch irgendwie spürte er ein tiefes Verlangen nach ihr. Den letzten Kontakt zu der Reporterin hatte er gehabt, als er ihr die retuschierten Fotos der beiden Opfer für die öffentliche Zeugensuche hatte zukommen lassen. Sie hatte auf seine Mail mit einem knappen Danke geantwortet. Mehr nicht.
Er wartete bis die Kaffeemaschine durchgelaufen war und hoffte auf eine plötzliche Schlafattacke. Aber nichts geschah. Sein Kreislauf kam von Sekunde zu Sekunde mehr in Schwung und nachdem er den heißen Kaffee getrunken hatte, fühlte er sich so belebt, dass er am liebsten zum Training gegangen wäre. Er ließ es viel zu sehr schleifen und fühlte sich, als könne er seinen Muskeln beim Verfallen zusehen.
Also schön, was nun? Ein paar Liegestütze? Brady ließ sich auf den Boden nieder und drückte sich ein paar Mal in die Höhe. Dann fiel sein Blick aus dem Fenster in die tiefe Nacht und er kam sich albern dabei vor, seinen Körper zu stählen, während alle anderen schliefen.
Unruhig tappte er zurück ins Schlafzimmer und zog sich an. Ein nächtlicher Spaziergang durch die beleuchteten Gassen von Temple Bar würde ihn sicher ablenken.
Die meisten Pubs
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