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Nebelflut (German Edition)

Nebelflut (German Edition)

Titel: Nebelflut (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nadine d’Arachart
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schluchzen, dass ihr der ganze Körper davon wehtat. Sie wollte nicht diese scheußliche Albia sein, die lächelnd mit der Hexe und dem schwarzen Mann zu Mittag aß.
    »Sag mir deinen Namen, Albia!« Der Junge schrie sie jetzt an. Amy glaubte, dass er verrückt war, genauso verrückt wie seine Eltern, und dass sie lieber gar nicht mehr mit ihm sprechen wollte. Sie wollte, dass er ging und dass Douglas kam. Douglas sagte nie etwas. Er tat ihr zwar weh, aber er schrie sie nicht an.
    Der Junge verschwand aus ihrem Sichtfeld und sie hörte ihn irgendwas machen, irgendwo in der Nähe der Wand. Dann kam er zurück und was er in der Hand hielt, verwirrte Amy. Genau so eine Zange hatte ihr Dad zu Hause in seiner Garage. Ihr Anblick stach Amy ins Herz und ließ sie für einen kurzen Moment glauben, dass nun alles gut würde. Dass zu diesem winzigen Stück Zuhause weitere kommen würden, dass sie bald wieder dort wäre. Dann biss ihr die Zange in die Haut und sie glaubte gar nichts mehr.
    Es dauerte ewig, bis der Schmerz nachließ und der Junge wieder zu sprechen begann. »Jedes Mal, wenn du das Wort „Amy“ sagst, bedeutet das schlimme Schmerzen. Weißt du, wie schlimm Schmerzen sein können? Sie können so schlimm sein, dass du stirbst. Also hör auf, „Amy“ zu sagen.«
    »Aber ich bin Amy«, schluchzte sie.
    Wieder biss die Zange zu, irgendwo in ihren Bauch, aber es tat überall weh. Sie dachte in letzter Sekunde daran, dass sie nicht schreien durfte und presste die Zähne aufeinander. Der Junge ließ locker und sie spürte seine kalte Hand an ihrer Wange. Sie zuckte zurück, aber er wischte ihr nur die Tränen und das Blut aus dem Gesicht. »Dann hör auf, „Amy“ zu sein.«
    Amy machte die Augen auf. »Bitte hilf mir«, wimmerte sie.
    Der Junge schüttelte den Kopf und hob die Zange.
    Mit ihrem ganzen Gewicht warf sich Amy in die Ketten, um dem Werkzeug auszuweichen, doch ihr Körper schwang nur ein winziges Stück nach hinten. »Ich bin Albia, mein Name ist Albia!«, schrie sie, ohne es wirklich zu wollen.
    Der Junge rührte sich nicht. Eine ganze Zeit lang sah er sie nur an. Dann verschwand er wieder aus ihrem Gesichtsfeld und sie hörte ihn in der gleichen Ecke wie gerade herumklappern.
    »Ich hab es doch gesagt.« Sie schloss die Augen. »Ich bin Albia, hörst du? Ich bin–«
    Sie spürte etwas kaltes, glattes an ihren Lippen. »Trink«, sagte der Junge.
    Überrascht öffnete Amy die Augen.
    »Los, trink. Bevor noch jemand kommt.«
    Amy öffnete den Mund und trank hastig das kalte Wasser. Es lief an ihrem Kinn runter und sie bemühte sich, vorsichtiger zu sein, damit ja kein Tropfen zu viel daneben ging.
    »Danke«, flüsterte sie schließlich und versuchte den Jungen anzulächeln, aber der Junge lächelte nicht zurück.

-62-
    »Mister Namara? Hören Sie mich?«
    Er hatte die Augen geschlossen und spürte, wie das Meerwasser in die Polster unter ihm sickerte. Natürlich hörte er sie, aber er war außerstande, etwas zu erwidern. Den Weg aus der steigenden Flut nach Hause hatte er wie in Trance zurückgelegt. Nur langsam wurde ihm klar, was er beinahe getan hätte. Er hatte eine Tochter, verdammt noch mal. Sie zu enttäuschen war schlimm, es fühlte sich so ähnlich an wie damals, als es ihn in die Verzweiflung getrieben hatte, Amy enttäuscht zu haben.
    Er erinnerte sich an einen Vorfall kurz nach ihrem Verschwinden. Damals war er fünfzehn gewesen und wie besessen von dem Gedanken, dass Amy sich lediglich in dem dichten Wald hinter ihrem Elternhaus verlaufen hatte. Dass sie noch dort war. Verängstigt und halb verhungert – dass ihr aber nichts zugestoßen war. Dass es, anders als die Polizei vermutete, immer noch einen Weg zurück nach Hause für sie gab, den sie alleine nur nicht fand.
    Er steigerte sich so in diesen Gedanken hinein, dass er in einer schlaflosen Nacht aus dem Haus schlich und in den Wald lief, fest entschlossen, sie wiederzufinden. Stundenlang rannte er durch das Dickicht, sah sie in jedem Schatten kauern, schöpfte hundertmal neue Hoffnung und musste immer wieder feststellen, dass es nirgends eine Spur von ihr gab.
    Irgendwann fand er sich völlig entkräftet auf dem Waldboden wieder, regennass und schmutzig, obwohl er den Regen vorher noch nicht einmal bemerkt hatte. Das Morgengrauen setzte bereits ein und auf einmal war er sich sicher, dass er den Weg zurück nach Hause ebenfalls nicht wiederfinden würde. Dass er sich für immer hier im Wald verlaufen hatte.
    Vor seinem inneren Auge

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