Nebelflut (German Edition)
moderten. Obenauf lag ein Kinderbuch, eine dicke Ausgabe, deren Seiten an den Rändern dunkelgrau geworden waren. Irische Sagen und Legenden stand in goldenen Buchstaben vorne drauf. Jack hatte Amy jeden Abend eine Geschichte aus diesem Buch vorlesen müssen und sie hatte immer darauf bestanden, dass er das Buch in den Händen hielt, auch wenn er sie längst auswendig kannte.
Vorsichtig nahm Patrick das Märchenbuch aus der Kiste und fand darunter ein paar ihrer Kleidungsstücke, von denen seine Eltern sich nicht hatten trennen können. Behutsam holte er sie heraus und was er darunter erblickte, ließ sein Herz sich schmerzhaft zusammenkrampfen. Auf dem Boden des Kartons lag eine kleine Porzellandose, darin zwei von Amys Milchzähnen. Sie hatte sie verloren, kurz bevor sie verschwunden war.
Jetzt muss mir die Zahnfee einen Wunsch erfüllen, Paddy.
Patrick sank neben Amys Sachen auf die Bettkante und konnte nichts dagegen tun, dass er völlig die Beherrschung verlor. Er schlug die Hand vor den Mund und spürte, wie Tränen über seine Finger strömten. Sie war ein sechsjähriges Mädchen gewesen. Was um alles in der Welt hatte er sich damals nur gedacht? Er hatte zugelassen, dass Amy diesen Wahnsinnigen in die Hände gefallen war, er hatte ihren Tod zu verantworten. Wenn er dafür jetzt wahnsinnig wurde, wenn er langsam aber sicher den Verstand verlor, dann hatte er es verdammt noch mal verdient.
Auf einmal spürte er eine Hand auf seiner Schulter. Er blickte auf und entdeckte Evelyn, die hereingekommen war, ohne dass er es bemerkt hatte. Er öffnete den Mund, um ihr diese Situation zu erklären, doch seine Mutter schüttelte bloß den Kopf und ihre Lippen verzogen sich zu einem traurigen Lächeln.
»Sie fehlt uns allen.«
Er war nicht fähig, etwas zu erwidern.
»Die letzten Wochen waren für uns alle schwer, aber du kannst mit uns darüber sprechen, Junge.« Die Stimme seiner Mutter zitterte.
Patrick wandte sich ab und vergrub das Gesicht in den Händen. Er verdiente ihren Trost nicht und konnte ihr selber keinen Trost spenden. Sein Wissen um jene Nacht vor neunzehn Jahren stand so fest und unerschütterlich zwischen ihnen.
Er öffnete die Augen und starrte aus dem Fenster. Der Himmel war nachtblau, der Mond weiß wie Knochen. Der Wald ragte finster in den Abend und hatte nichts von seiner Bedrohlichkeit eingebüßt. Patrick lauschte der zittrigen Stimme seiner Mutter, die sanft auf ihn einredete, und wünschte sich nur noch, dass alles endlich ein Ende nahm. Morgen würde er zurück nach Dublin fahren und dann würde er dafür sorgen.
-77-
Brady konnte nicht einschlafen. Immer wieder musste er an Chloe denken, wie sie alleine in ihrer Wohnung saß und vermutlich Angst hatte. Er hatte heute mehrfach mit ihr telefoniert und sie hatte ihm immer wieder versichert, dass es ihr gut ginge, bis Brady schließlich aufgegeben hatte. Anscheinend wollte sie ihre Ruhe.
Er stand auf und trat ans Fenster. Die Dorset Street lag dunkel und verlassen unter ihm. Wenn er sich überlegte, dass Nate Simmon in einem der unzähligen Schatten hocken und auf sein nächstes Opfer warten könnte, wurde ihm ganz anders.
Brady verscheuchte die düsteren Gedanken und setzte sich an den Tisch. Vor ihm lagen einige Zettel, auf denen er grob notiert hatte, was sie bisher wussten. Ein entführter Sechsjähriger, der mit ziemlicher Sicherheit auf das Konto von Thompson und Caldwell ging. Vom Alter her konnte dieser Junge Nate sein. Was zwar Einiges erklärte – zum Beispiel, dass er und Toby sich für Brüder hielten, es aber nicht waren – jedoch erklärte es nicht, wieso Nate seine vermeintlichen Eltern umgebracht haben sollte. Wenn es aus Hass auf seine Entführer geschehen war, wieso hatte er dann gewartet, bis er fast dreißig war? Warum war er so lange bei ihnen geblieben? Und wieso hatte er dann versucht, Toby ebenfalls zu töten?
Es gab nur eine Möglichkeit, die ihn jetzt weiterbringen konnte: Er musste herausfinden, ob Toby auch entführt worden war.
Brady öffnete sein Notizbuch und setzte DNA-Abgleich Thompson, Caldwell und Toby Simmon ganz oben auf die Liste. Als zweiten Schritt notierte er, dass er sich noch einmal das Baby ansehen würde, dass vor fünfzehn Jahren aus dem Krankenhaus in Belfast entführt worden war. Wenn er Glück hatte, dann hatten die Eltern des Säuglings irgendetwas aufbewahrt, womit man Tobys DNA abgleichen konnte. Und anschließend würde er sich noch einmal den Namaras widmen. Vielleicht sagten
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