Nebelfront - Hinterm Deich Krimi
und
rechnete. »Kruschnicke ist achtundzwanzig Jahre jünger.«
»Das geht doch«, gab Christoph zu bedenken.
»Und wenn die beiden doch ein Verhältnis miteinander hatten? Ist es
nicht ungewöhnlich, wenn zwei Männer zusammenleben und nie eine Frau
auftaucht?«
»Das kommt sicher nicht oft vor«, stimmte Christoph zu. »Es wäre
interessant zu wissen, wie lange das Verhältnis zwischen den beiden schon
besteht.«
»Mindestens seit zweiunddreißig Jahren«, erwiderte Große Jäger. »So
lange wohnen sie in dem Haus in der Lornsenstraße. Und Kruschnicke ist damals mit
eingezogen.«
»Damals war er achtzehn«, rechnete Christoph vor. »Vielleicht hatten
die doch eine sexuelle Beziehung und haben sie im gegenseitigen Einvernehmen
geheim gehalten, um Pferdekamps Reputation als Arzt nicht zu gefährden.
Schließlich hat er in Garding praktiziert. Auf Eiderstedt ist man in solchen
Dingen sicher konservativer als in der Anonymität der Großstädte.«
»Das würde einiges erklären. Keine Frau, keine sozialen Kontakte,
keine Besuche. Kruschnickes Depressionen nach Pferdekamps Tod. Das könnte
zusammenpassen.«
»Das ergibt aber noch keinen Hinweis auf den Täter, der das Grab
geschändet hat. Und jugendlicher Übermut scheidet aus. Haben wir eigentlich
schon geprüft, welche Religion Dr. Pferdekamp hatte?«
»Du meinst, ob eventuell ein faschistischer Hintergrund vorhanden
ist? Wenn der Arzt Jude war und …«, ließ Große Jäger das Ende offen und
wartete, bis Christoph diese Frage geklärt hatte.
»Das ist es auch nicht«, sagte er schließlich enttäuscht, als
Christoph berichtete, dass Dr. Pferdekamp evangelisch gewesen war. »Wie
alle in Nordfriesland«, fügte er an.
»Das ist hier Staatsreligion«, sagte Große Jäger. »Nur ich habe den rechten Glauben.«
»Du?«, lästerte Christoph. »Dein Glaubensbekenntnis umfasst doch
lediglich zehn Biersorten.« Dann wurde er wieder ernst. »Was mag die Täter
bewogen haben, den Anschlag auf den verstorbenen Arzt auszuüben?«
Für eine Weile hingen die beiden Polizisten ihren eigenen Gedanken
nach.
»Hass, sagtest du«, unterbrach Große Jäger das Schweigen. »Was löst
Hass aus? Verschmähte Liebe?«
»Das kann auf Holger Kruschnicke nicht zutreffen. Die beiden haben
einträchtig zusammengelebt. Außerdem hat er alles geerbt.«
»Und wenn Pferdekamp in seinen letzten Lebensjahren einen anderen
hatte? So diskret es zwischen den beiden Männern gelaufen ist, so hätte es auch
mit einem anderen gewesen sein können. Halten materielle Dinge wie Haus und
Lebensunterhalt von irrationalen Handlungen ab, wie wir sie hier vorgefunden
haben? Ich sag’s mal auf Deutsch«, erklärte Große Jäger. »In den Sarg hatte der
Täter eimerweise Scheiße gekippt. Was will er damit sagen?«
»Das ist unser Kernproblem«, bestätigte Christoph. »Aber die
Fäkalien mussten zum Friedhof transportiert werden, wobei ich nicht einmal
daran denken möchte, dass sie zuvor auch gesammelt werden mussten. Holger
Kruschnicke hat kein Auto. Er hat noch nie einen Führerschein besessen.«
»Das heißt nicht, dass er nicht Auto fahren kann. Wie finden wir den
Opel, von dem Lenny sprach?«
»Eine gute Frage. Die Marke ist kein Exot.«
»Noch einmal zu den Fäkalien. Rund um Husum gibt es einen
ausgedehnten ländlichen Bereich, der nicht an die Kanalisation angeschlossen
ist. Dort wird die Frage des Abwassers über eine Klärgrube geregelt. Es wäre
also viel einfacher, an die Fäkalien heranzukommen, als in der Lornsenstraße,
die an das städtische Kanalnetz angeschlossen ist.«
»Wir fahren jetzt nach Garding und hören uns dort ein wenig um«,
beschloss Christoph, nachdem er auf die Uhr gesehen hatte. »Jetzt ist die
Praxis geöffnet.«
Der Nebel hatte sich aufgelöst und Platz für einen wunderschönen
Herbsttag gemacht. Am blauen Himmel hingen ein paar weiße Schäfchenwolken. Die
Luft war mild, rein und klar und das Licht von einer besonderen Helligkeit, die
schon in der Vergangenheit die Maler angelockt hatte. Im benachbarten
Königreich waren es die Skagenmaler um Holger Drachmann, der sein Grab in den
Dünen an der Nordspitze Jütlands gefunden hatte; Nordfriesland glänzte mit Emil
Nolde.
Sie schwammen im mäßigen Verkehr mit, passierten die »Todeskurve«,
die die traurige Berühmtheit besaß, die meisten Todesopfer im Straßenverkehr im
Land zu fordern, verließen bei Tönning die B 5, Nordfrieslands
Hauptverkehrsader, und folgten der Straße an die Westspitze, an
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