Nebelfront - Hinterm Deich Krimi
Ermittlungsleiter Hansen
gewundert, dass man drei Tage nach dem Verschwinden des Jungen gewartet hat,
bis die Polizei eingeschaltet wurde. In der Vernehmung gab man an, dass Günter
Steppujat ein schwieriges und eigenwilliges Kind gewesen war, das oft aus der
Reihe tanzte, sich nicht an die Hausordnung hielt und auch sonst Probleme
bereitete.«
»Wir sprechen über einen Neunjährigen«, warf Christoph ein.
»Ich zitiere nur aus der Akte.« Große Jäger klang fast, als würde er
sich entschuldigen.
»Gab es Vermutungen, wo das Kind abgeblieben ist?«
»Nein. Dazu findet sich nichts in den Akten.«
»Ich kann mir nicht vorstellen, dass ein Kind in dem Alter aus dem
Heim flüchtet und es schafft, sich ein neues Leben aufzubauen. Nicht in
Deutschland. Ohne Papiere bist du ein Nichts.«
»Wir hatten vor Kurzem den Fall, dass ein Triebtäter Kinder aus den
Schlafräumen von Jugendherbergen und Schullandheimen entführte, ohne dass es
jemand bemerkt hat, die Kinder missbrauchte und ermordete.«
»Glaubst du, dass ein Triebtäter nur einmal einen Mord begeht?«,
fragte Christoph. »Das ist unwahrscheinlich. Entweder ist Günter Steppujat
wirklich untergetaucht, oder er wurde Opfer eines Verbrechens.« Christoph
stockte.
»Und den Täter hat man nie gefasst. Damals gab es noch keine DNA . Ich weiß nicht, welche Techniken seinerzeit
aktuell waren und welche Möglichkeiten sich für die Kriminaltechnik ergaben.«
»Das war nicht das Mittelalter«, erwiderte Christoph.
»Blutuntersuchungen haben schon damals Täter überführt. Aber dazu fehlte das
Opfer.«
Große Jäger kratzte sich die Bartstoppeln. »Sonst hätte man
möglicherweise jemanden aus dem Heim überführen können?«
»Das ist sehr weit hergeholt.«
»Immerhin war das die Zeit, in der die Übergriffe gegenüber
Schutzbefohlenen gang und gäbe waren, über die heute diskutiert wird.
St.-Josef-Heim? Ich versuche herauszufinden, wer der Betreiber war.«
Christoph erbat sich die Akte und las sie aufmerksam, während Große
Jäger mehrere Telefonate führte. Dann unterbrach er Christoph.
»Der Name ist irreführend«, erklärte der Oberkommissar. »Es handelte
sich um ein staatliches Heim des ehemaligen Kreises Eiderstedt. Ursprünglich
war es ein sogenanntes Erziehungsheim, in das schwer erziehbare Kinder und
Jugendliche weggesperrt wurden.«
»Wer hat definiert, was ›schwer erziehbar‹ war?«, unterbrach ihn
Christoph.
»Das wird uns niemand vernünftig beantworten können«, sagte Große
Jäger und fuhr fort: »Später nahm man auch Waisen und Kinder aus zerrütteten
Verhältnissen auf. Das St.-Josef-Heim war ein Hort der Gestrandeten und
Vergessenen. Es fällt aber nicht in die Kategorie der skandalbelasteten Heime,
die ja häufig konfessionell geprägt waren.«
»In diesem Punkt widerspreche ich dir«, sagte Christoph. »Nur weil
es nicht unter kirchlicher Obhut stand, bedeutet es nicht, dass es die Kinder
dort besser hatten. Abgesehen davon halte ich es für polemisch, zu
unterstellen, in allen kirchlichen Einrichtungen hätte es Übergriffe auf die
Kinder gegeben, selbst wenn das Verständnis von Erziehung damals ein anderes
war.«
»Wie kann ein Kind spurlos verschwinden? Warum schaltet man erst
nach drei Tagen die Polizei ein? Das sind für mich …« Große Jäger
unterbrach seinen Satz und beugte sich zu Christoph hinüber. »Hallo? Hörst du
mir noch zu?«
Christoph murmelte: »Ja«, und las weiter. Plötzlich drückte er sein
Kreuz durch und richtete sich auf. Er schob die Brille ein Stück die Nase empor
und tippte hörbar mit der Spitze seines Zeigefingers auf eine Stelle auf dem
Papier.
»Hast du das gelesen?«
»Was denn? Du hast mir doch die Akte aus der Hand gerissen.«
Christoph drehte den Vorgang um und zeigte dem Oberkommissar die
Stelle.
»Das glaube ich jetzt nicht«, entfuhr es Große Jäger. »Warum haben
wir das nicht vorher gewusst?«
»Das hat uns niemand gesagt. Zum einen, weil wir nicht danach
gefragt haben, zum anderen hat sich keiner daran erinnert. Wer auch? Die Leute,
mit denen wir gesprochen haben, waren damals noch nicht in diesem Umfeld
tätig.«
»Aber Ingelore Gleiwitz, geschiedene Hohenhausen, hätte uns doch
erzählen können, dass ihr Mann Hausmeister im St.-Josef-Heim war, bevor er an
die Schule in Tönning wechselte.«
»Darüber haben wir nicht gesprochen. Vermutlich hat sie gar nicht
daran gedacht. Und auch sonst niemand. Als der Kreis Eiderstedt damals in den
neu gegründeten Kreis
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