Nebelfront - Hinterm Deich Krimi
schrie er. Immer wieder »Aufhören!«.
Es war ein markdurchdringender Schrei, der umgehend das
Klinikpersonal alarmierte. Zwei Schwestern stürzten herbei, die sich um den
Patienten kümmerten, während ein bullig wirkender Pfleger Große Jäger gegenüber
eine drohende Haltung einnahm.
»Was haben Sie gemacht?«, fragte er.
»Wir haben uns unterhalten«, erwiderte Große Jäger.
Der Pfleger schien mit der Antwort nicht zufrieden zu sein. Er
wollte zu einer Antwort ansetzen, als Lenny sich zu Wort meldete.
»Holger ist mein Freund. Warum ist er traurig? Weil seine Blumen
kaputt sind?«
»Sie sollten auf dem schnellsten Wege die Klinik verlassen«, sagte
der Pfleger, hielt die Tür auf und begleitete Große Jäger und Lenny bis zum
Ausgang.
Der Oberkommissar war sehr nachdenklich auf der Rückfahrt und ging
auch nicht auf Lennys begeisterte Äußerungen ein, als sie mit dem Streifenwagen
zurück nach Husum fuhren.
***
Christoph räumte die Reste des Abendessens weg, sortierte das
Geschirr in die Spülmaschine, öffnete die zweite Flasche Bier und zog sich ins
Wohnzimmer zurück.
»Mann müsste man sein«, lästerte Anna, die das Bügelbrett aufgebaut
hatte, einen kritischen Blick auf den Wäschestapel warf und meinte: »Wenn du
dich zu mir stellst, zeige ich dir, wie man Herrenhemden bügelt.«
»Okay«, erwiderte Christoph. »Und ich erkläre dir, wie man den
Rasenmäher anwirft, die Grünfläche vertikutiert und …«
»Ist das dein Beitrag zur Emanzipation?«
»Willst du emanzipiert sein?«
Sie lachte. »Auf eine ganz besondere Weise, aber nicht immer.«
»Na schön«, knurrte er gespielt beleidigt. »Dann werde ich weiter
die Wasserkisten schleppen.«
»Und deine Bierkiste.«
Ihr Geplänkel wurde durch die Türglocke unterbrochen.
»Nanu?« Christoph sah auf die Uhr. »Wer stört uns um diese Zeit?« Er
stand auf und ging zur Haustür. »Du?«
Große Jäger grinste. »Ich bin ganz von Husum nach England gekommen.
Ist die Königin zu Hause?«
»Die mit der Handtasche oder meine?« Christoph trat zur Seite und
ließ den Oberkommissar ein.
»Du?« Anna wiederholte Christophs erstaunte Frage, als Große Jäger
ins Wohnzimmer trat, und ließ eine Umarmung zu.
Christoph ließ seinen Kollegen Platz nehmen, bemerkte dessen
sehnsüchtigen Blick auf sein Getränk, besorgte eine zweite Flasche Bier und
setzte sich wieder.
»Darf ich?«, fragte der Oberkommissar und nickte in Annas Richtung.
»Ist wichtig.« Er wollte sich vergewissern, ob er über berufliche Dinge
sprechen dürfe.
Christoph nickte.
Große Jäger berichtete von seinem Besuch in der Klinik. Christoph
unterbrach ihn kein einziges Mal, und auch Anna hatte das Bügeln unterbrochen
und sich zu ihnen gesetzt.
»Mit so etwas Schrecklichem müsst ihr euch auseinandersetzen?«,
fragte sie, als Große Jäger seine Ausführungen abgeschlossen hatte.
»Leider. Wir haben oft mit den Abgründen des menschlichen Daseins zu
tun. Sicher erlebst du auch viele Schattenseiten in deinem Beruf. Aber manchmal
macht es keinen Spaß, Polizist zu sein.«
»Das verstehe ich nicht«, sagte Anna und nippte vorsichtig an ihrem
Rotweinglas. »Das muss doch auffallen, wenn Kinder geschlagen werden. Nachbarn,
andere Kinder, die Schule – die müssen das doch mitbekommen.«
»Die Schule entfällt in diesem Fall als Kontrollinstanz«, erklärte
Christoph. »Die Kinder wurden im Heim unterrichtet.«
»Aber die Lehrkräfte?«
»Die haben das toleriert. Es handelt sich um eine einzige Lehrerin.«
»Eine Frau? Dann verstehe ich erst recht nicht, dass die nicht
eingeschritten ist. Frauen lassen solche Schweinereien nicht zu.«
»Manchmal schon«, erwiderte Christoph. »Die Kinder hatten doppeltes
Pech. Nicht nur, dass sie in diesem unseligen Kinderheim untergekommen sind.
Ein pädophiler Betreuer, ein prügelnder Hausmeister, nein, auch noch eine
Lehrerin, die während der Nazizeit im BDM aktiv
gewesen ist und das alles toleriert hat.«
»Das sind doch Kriminelle«, ereiferte sich Anna.
»Das haben wir jetzt auch herausgefunden«, pflichtete ihr Christoph
bei. »Es hat aber lange gedauert. Bei Verbrechen dieser Art schweigen die Opfer
häufig aus Scham. Ihnen ist manchmal über Jahre eingetrichtert worden, sie
seien selbst schuld. Sie hätten es nicht anders verdient. Aufgrund dessen, was
sie haben durchmachen müssen, sind sie verstört und psychisch krank. Dabei
suggeriert ihnen ihre Umgebung, dass sie nicht zurechnungsfähig und ihre
Erzählungen
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