Nebelfront - Hinterm Deich Krimi
bekannt.
»›Du bist nichts anderes als dieses Unkraut hier‹, hat Hohenhausen
geschrien. War das so, Holger?« Buschinski tippte Kruschnicke aufs Knie, aber
der reagierte nicht.
»Doch, so war das«, bekräftigte Buschinski jetzt an Große Jäger
gewandt.
»Kennen Sie Hildegard Szymanik?«, fragte der Oberkommissar.
»War das nicht die Putzfrau, die auch in der Küche geholfen hat?«,
antwortete Buschinski mit einer Gegenfrage.
Große Jäger nickte.
»Die hatte ihren Sohn dabei. Der war etwas jünger. Wie hieß er noch
gleich?« Der Mann zog die Stirn kraus.
»Helmut«, half Große Jäger nach.
»Richtig. Der hat mir leidgetan. Der hat alles mitgekriegt.«
»Und seine Mutter?«
»Die hat versucht, uns zu helfen. Aber was konnte die ausrichten?
Sie war ja nur die Putzfrau. Und verdammt jung.«
Große Jäger überschlug das Alter. Hildegard Szymanik musste damals
Anfang zwanzig gewesen sein.
»Was ist mit Günter Steppujat passiert?«
»Der war kleiner und schmächtiger als wir. Vielleicht musste er
deshalb öfter zu Schierling.« Buschinski schloss für einen Moment die Augen.
»Ich werde das Bild nie vergessen, wie Günter gezittert hat. Er hat sich unter
der Bettdecke versteckt. Sein Schluchzen war unüberhörbar. In dem Alter macht
man sich als Junge darüber lustig. Echte Kerle heulen nicht, hat man uns
beigebracht. Aber mit Günter … Den hat keiner verspottet. Mit dem hatten
wir Mitleid. Zumal die meisten von uns irgendwo da draußen noch einen
Angehörigen hatten. Eine Mutter. Sonst wen, auch wenn die sich nicht um uns
gekümmert haben. Wir waren im Heim, weil wir eine ledige Mutter hatten, die der
Mutterrolle nicht gewachsen war. Andere haben in der Zeit des Aufschwungs den
Mann verloren. Günter hatte niemanden. Er war wirklich ganz allein auf der
Welt. Vielleicht hat das Schwein von Schierling das ausgenutzt. Einmal hat
Günter sich versteckt. Mehrere Stunden haben die nach ihm gesucht, bis sie ihn
in der Jauchegrube entdeckt haben. Mir graust es heute noch, wenn ich ihn
schreien höre. So hat ihn Hohenhausen zusammengeschlagen.«
»Das muss doch jemand gemerkt haben?«
»Wer denn? Wir waren doch der Haufen der Verlorenen und
Vergessenen.«
Für Große Jäger war es unvorstellbar. Er mochte nicht glauben, was
er zu hören bekam. Ihn wunderte es nicht, dass die Menschen, die diese Hölle
durchgemacht hatten, für den Rest ihres Lebens gezeichnet waren und immer
wieder in die ärztliche Obhut dieser Klinik flüchten mussten. Er verstand auch,
weshalb Dr. Jamali sich so vehement dagegen gewehrt hatte, dass die beiden
Männer mit der Polizei sprachen.
»Und irgendwann ist Günter Steppujat verschwunden?«
Buschinski schwieg eine ganze Weile. Dabei knetete er seine Finger.
Mit einem Ruck richtete er sich auf und sah Große Jäger lange in die Augen.
»Eines Tages hatte er ein Messer aus der Küche entwendet und mit ins
Bett genommen. Er wusste, dass Schierling ihn abends holen wollte.«
»Und dann?«, ermutigte Große Jäger den Mann weiterzusprechen.
»Kurz nachdem Günter geholt worden war, hörten wir Schierling
schreien. Er hat oft gebrüllt, aber dieses Schreien werde ich nie vergessen. Er
muss in seinem Zorn Günter fürchterlich zugerichtet haben.«
»Was ist genau passiert?«
Buschinski zuckte hilflos mit den Schultern. »Das hat keiner
mitbekommen. Wir haben Günter danach nie mehr gesehen. Nur noch ein paar Tage
gehört.«
»Gehört?«
»Ja. Er war in der Abstellkammer eingesperrt. Wir haben nur sein
Wimmern gehört. Es wurde jeden Tag leiser. Irgendwann war es verstummt.«
»Das muss doch den Erwachsenen, die im Hause waren, aufgefallen
sein?«
»Ich glaube, es durfte nicht auffallen. Sonst wäre viel passiert.
Deshalb haben alle geschwiegen, sofern sie nicht daran beteiligt waren. Günter
war einfach verschwunden. Und wir Kinder haben uns nicht getraut, seinen Namen
zu erwähnen. Ich habe es einmal gewagt und von Hohenhausen eine Ohrfeige
bekommen, dass ich durch den ganzen Raum geflogen bin. Und ein halbes Jahr
später wurde das Heim geschlossen.«
Der Schulleiter Bauschulte hatte über Hohenhausen ausgesagt, dass er
den Hausmeister als impulsiv bezeichnen würde, als jemanden, der stets auf das
Durchsetzen seiner Meinung drang, auch wenn er später der Gewalt angeblich
abgeschworen hatte.
»Welche Rolle hat Dr. Pferdekamp dabei gespielt?«, wollte Große
Jäger wissen.
Plötzlich riss Kruschnicke die Hände hoch und hielt sich die Ohren
zu.
»Aufhören!«,
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