Nebelgrab (German Edition)
einer kleinen Abteilung Devotionalien hatte schließen müssen, tat er nichts Vernünftiges mehr, so sagte Martha.
Die Mutter erledigte noch hin und wieder kleinere
Schneiderarbeiten, doch die meisten Menschen konnten sich solche Dienste nicht mehr leisten. Martha fühlte fast Mitleid mit Hubert, der ihrer Meinung nach trotz seiner Ideen nichts zustande brachte. Es würde ihm nicht mehr lange gut gehen, sofern man in diesen Zeiten überhaupt von Wohlbefinden sprechen konnte.
Sie selber, Martha Schüttler, packte das Leben beim Schopf. Sie hielt sich nicht mit Tanzmusik auf, sondern sorgte für ihre Familie, indem sie sich um die Beschaffung von Lebensmitteln kümmerte. Sie konnte sich nicht auf einen gut betuchten Hintergrund berufen wie Hubert, sondern hatte nach der Volksschule bei einem Bauern in Süchteln-Hagen als Landwirtschaftsgehilfin angefangen. Dort sorgte sie für ihr Auskommen und bekam für ihre Familie regelmäßig Ernteabfälle, die mit ein wenig Phantasie zu reichhaltigen Mahlzeiten zubereitet wurden.
Und die praktische Martha war es, die nun beherzt zugriff, noch einmal in die gespannten Gesichter ihrer Freunde blickte und mit einem Ruck die Tasche öffnete. Wieder schoben sich die Köpfe über die Öffnung und wieder sahen sie einen Kasten aus rötlichem, glattem Holz und einen dunkelroten Samtbeutel. Vorsichtig hob Martha den Kasten aus der Dunkelheit und hielt ihn in die Höhe.
»Welches Geheimnis magst du verbergen?«, murmelte sie und fing an zu kichern, als sie in Sophies und Lenes verschreckte Augen sah. Hubert nahm ihr den Kasten aus der Hand und wog ihn ein wenig Auf und Ab.
»Ist nicht schwer«, sagte er, als könne er damit Gefährliches ausschließen.
»Sollen wir nicht lieber nach oben gehen?«, fragte Lene und konnte ein leichtes Zittern ihrer Hände nicht verbergen; sie horchte ständig nach draußen, aus Angst, ihre Tante und ihr Onkel könnten zurückkommen.
Die anderen nickten stumm und folgten Lene, die schon an der Treppe stand. Hubert trug mit erhobenen Armen den Kasten, der die Größe eines Schuhkartons hatte, und Martha folgte ihm mit der Tasche im Arm. Sophie ging als Letzte die Treppe hinauf und zupfte die ganze Zeit aufgeregt kichernd an Marthas Kleidersaum. In Lenes Kammer ließen sich die drei Mädchen auf dem Boden nieder, der in der Mitte des Raumes von einem runden Häkelteppich bedeckt wurde. Genau in die Mitte des Teppichs stellte Martha die geheimnisvolle Tasche und griff, ohne zu zögern nach dem Samtbeutel.
»Halt!«, sagte Hubert, »lass uns erst den Kasten öffnen.« Umständlich stellte er ihn auf dem Boden ab und setzte sich langsam hin. Es dauerte wegen seines Beines länger als bei den anderen, die unruhig mit den Fingern auf den Boden klopften.
»Gut«, sagte er, als er neben ihnen saß, »Lene, du solltest ihn öffnen, du hast ihn schließlich hergebracht.«
Lene atmete tief durch, knetete kurz die Finger wie ein Kartenspieler, der seine Gliedmaßen vor dem Mischen der Karten geschmeidig macht, und ergriff das goldfarbene Schloss des Kastens. Es sprang ohne Widerstand auf und mit einem leichten Knarren hob Lene den Deckel.
»Ist bestimmt nur Schuhwichse darin«, sagte Sophie kichernd.
Der geöffnete Deckel gab den Blick auf einen grauen Lappen frei, unter dem sich etwas verbarg. Lene zog daran, ganz langsam, und zutage trat – ein zwar ramponierter, aber dennoch klar erkennbarer menschlicher Schädel! Sophie stieß einen Schrei aus und sprang auf. Lene ließ das Tuch, das sie mit spitzen Fingern gehalten hatte, fallen, und Hubert rümpfte die Nase, während Martha sich ein wenig aufrichtete, leicht verärgert auf Sophie blickte und tonlos sagte: »Kein Schatz, so wie es aussieht.«
Lene blickte ratlos in die Runde.
»Wer mochte das gewesen sein?«, fragte sie ehrfürchtig.
»Hol den Beutel heraus!«, befahl Martha und sah Lene auffordernd an.
»Und wenn da noch mehr Knochen drin sind?«
Lene zögerte. Martha griff in die Tasche und holte den samtenen Behälter hervor. Sie tastete kurz den Inhalt ab.
»Nun ja, es ist etwas Hartes, aber es fühlt sich nicht nach Knochen an.«
Sophie setzte sich wieder und sah gespannt auf Lene, die nun den Beutel ergriff und die mit Goldfäden durchwirkte Kordel löste.
Ein Blick in den Beutel ließ ihre blassen Wangen rot werden. »Ach du meine Güte, das sieht wertvoll aus!«, entfuhr es ihr.
»Lass sehen!« Hubert riss ihr förmlich das Fundstück aus der Hand und holte aus dem Beutel ein
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