Nebelgrab (German Edition)
übrigens mein Sohn Guido.« Der jüngere Mann gab der Frau die Hand.
»Worum geht es denn? Wissen Sie, seit der Professor nicht mehr bei uns ist, geht es mir nicht besonders gut.«
Die Frau, die mit einem geblümten Kleid und einer karierten Schürze bekleidet war, hielt sich ein Taschentuch vor den Mund und unterdrückte damit ein Aufschluchzen, das sich unweigerlich seinen Weg nach draußen gebahnt hätte. Ihre Augen waren feucht.
»Ähm, ja, wir wollen gar nicht weiter stören. Es ist nur so, dass Konrad, ich meine, Herr Professor Wiedener, mir noch ein paar Schriftstücke zustellen wollte. Ich telefonierte kürzlich noch deswegen mit ihm. Nun ja, die Papiere sind nicht angekommen, so dass ich davon ausgehe, er hat es nicht mehr geschafft.«
Ein nun deutlich hörbares Schluchzen unterbrach den älteren Mann, der seinem Sohn einen Seitenblick zuwarf, der Bände sprach. Er verlor offensichtlich die Geduld. Der Jüngere übernahm das Reden; Adrian spitzte dermaßen die Ohren, dass er meinte, die Ameisen in den Fugen unter seinen Füßen krabbeln zu hören. Was für Papiere meinten die beiden? Doch nicht etwa das Manuskript?
Der Mann namens Guido versuchte sein Glück. »Es ist nur so, dass wir kurz nachschauen möchten.
Die Papiere sind sehr wichtig und Professor Wiedener würde wollen, dass wir uns darum kümmern.«
Die Haushälterin riss sich wieder zusammen und antwortete: »Das geht aber nicht, ich bedaure. Ich kann Sie gar nicht ins Arbeitszimmer lassen, weil die Polizei noch alles versiegelt hat. Kommen Sie doch nächste Woche wieder, aber bitte rufen Sie vorher an, dann räume ich auf. Ich muss nun auch schauen, was aus mir …«
»Ja, dann besten Dank vorerst, Frau Stein, wir melden uns.«
Professor Hecker unterbrach die Dame etwas unwirsch und zog seinen Sohn von der Tür weg.
Adrian, der sich schon wieder aufgerichtet hatte, ging schnell zwei Schritte weiter und drückte sich hinter einen der Straßenbäume. Seine Gedanken rotierten.
Dann schaute er in den Kalender, den er noch immer in der Hand hielt. Er fand die Adresse des Professors auf Anhieb.
1949
»Onkel Johann, Tante Mathilde, danke für die Einladung, und uns allen«, Lene nickte Hubert und seiner jungen Frau Käthe zu, »wünsche ich ein gutes neues Jahr, auf dass es mit unserem Land im Jahre 1949 wieder aufwärtsgeht.« Sie hob ihr Wasserglas und prostete ihrer Familie zu.
Johann Becker stand mühsam auf. Mit Tränen in den Augen sagte er: »Nie wieder, nie wieder sollen
Deutschland und unser Süchteln einer so dunklen Zeit ausgesetzt sein, wie wir sie hinter uns haben. Lasst uns all der Toten gedenken und hoffen und beten, dass die Menschheit nie wieder eine solche Torheit begeht!«
Mathilde versuchte ihn zu unterbrechen. »Lass gut sein, Johann, wir sind doch alle wohlauf. Lass uns den Neujahrstag feiern. Es hat sich für uns doch schon viel verbessert. Seit der Währungsreform können wir wenigstens wieder einkaufen und sind nicht vom Schwarzmarkt abhängig.«
»Du verstehst nicht, Mathilde, die Gefahr durch die falsche Politik wird es immer geben. Nur mit Verstand und Herz kann man sie abwenden. Die Gefahr ist allgegenwärtig, weil es eben an Verstand und Herz nur allzu oft mangelt. Kinder, seid stets wachsam, haltet eure Augen und Herzen offen, darum bitte ich euch. Seht euch das Textwerk der Generalversammlung der Vereinten Nationen an. Es ist eine Erklärung der Menschenrechte – gebe Gott, dass nicht nur wir Notiz davon nehmen. Denkt an die Berliner. Immer noch halten die Sowjets die Blockade aufrecht; der Kalte Krieg setzt unserem Land zu. Es ist noch nicht vorbei. Gespalten haben sie uns schon, einfach das Land in Ost und West aufgeteilt.«
Er setzte sich ebenso mühsam, wie er aufgestanden war, und hustete auf eine blecherne Art, dass Lene bestürzt ihre Tante ansah.
»Es geht ihm nicht gut«, flüsterte diese, »der Winter setzt ihm zu.« Und laut prostete sie in die Runde und sagte: »Wir denken an deine Worte, Johann, und jetzt ein ganz besonderes Wohl auf unsere Frischvermählten! Lieber Hubert, liebe Käthe, alles Gute ganz besonders für euch in diesem Jahr! Liebe Lene, wir freuen uns, dass du wieder zu Besuch bist. Auch dir wünschen wir Glück für deine Anstellung und richte der Mutter und deinen Geschwistern bitte herzliche Grüße aus, wenn du sie das nächste Mal in der Eifel besuchst.«
Lenes Mutter war nach Kriegsende in Nettersheim geblieben. Die Todesnachricht ihres Ehemannes, die sie im Januar
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