Nebelgrab (German Edition)
Obdachlosenstätte geworden und beherbergte eine bunte Mischung von Menschen. Nachdem das Militär unterschiedlicher Nationen nach Kriegsende die Mauern endgültig verlassen hatte, suchten immer mehr Flüchtlinge nach einer bescheidenen Unterkunft. Alle mussten zusammenrücken. Jeder, der ein Zimmer oder auch nur eine Liege freihatte, bot sie einem armen Menschen an, der außer seinem Leben und ein paar wenigen Besitztümern nichts sein Eigen nennen konnte.
Tante Mathilde hatte Lenes ehemalige Kammer an einen jungen Mann vergeben, der dafür Möbel reparierte, Botengänge erledigte und, seit Johann nicht mehr da war, auf das Haus achtete. Mathilde fühlte sich besser so, auch wenn Hubert und Lene zweifelnd auf das Arrangement blickten. Hubert hatte angeboten, mit Käthe zurückzukommen, aber Mathilde bestand darauf, dass er mit seiner jungen Frau in Mönchengladbach bliebe. Dort musste Käthes Elternhof bewirtschaftet werden.
Lene lebte nun in Krefeld und hatte neben ihrer Anstellung auch im Haus ihrer Vermieterin zu tun, um die Miete niedrig zu halten.
Man half, man nahm Hilfe an, man verlangte nach Hilfe, man versuchte, Normalität zu erreichen, man versuchte zu leben.
Lene blickte an der imposanten Fassade ihrer ehemaligen Schule hoch, beschleunigte dann wieder ihren Gang und kniete kurz darauf an einem der Fußfälle nieder, um ein kurzes Gebet zu sprechen. Der Tod ihres Onkels lastete auf ihr, und die ungeklärte Situation mit der vermaledeiten Tasche leistete ihr Übriges.
Ein feiner Sprühregen benetzte ihr Gesicht, als sie sich wieder erhob. Sie meinte, einen Schatten auf der Straße gesehen zu haben. Irritiert und mit klopfendem Herzen blickte sie die Straße hinunter, doch niemand war zu sehen. Langsam ging sie weiter Richtung Wald.
Die Irmgardisquelle war ihr Ziel. Auch dort wollte sie ein kurzes Gebet sprechen. Sie würde in das Gewölbe hineingreifen und die Tasche einfach wieder an sich nehmen. Seit Jahren saß die Unentschlossenheit wegen der Fundsachen in ihrem Nacken, drohte sie manchmal niederzudrücken, machte sie ratlos. Sie wusste immer noch nicht, was sie mit den Sachen tun würde, aber da sie stets fromm und ehrfürchtig war, wollte sie nicht zulassen, dass Hubert einzig einen finanziellen Vorteil herausschlagen würde. Lene hatte daran gedacht, zum Gemeindepfarrer zu gehen und die Dinge der Kirche zu überlassen. Als düstere Erinnerung drohte immer noch der Tod des fremden Mannes in ihr und mit der Erinnerung die böse Ahnung, dass diese Gewalttat mit dem Inhalt der Tasche zu tun gehabt hatte.
Sie betrat den Wald und blickte sich immer wieder um, doch der Schatten blieb verschwunden.
Der Boden war nass. Verrottende Blätter klebten an ihren Schuhen und die Feuchtigkeit drang bis zu ihren Zehen durch. Der einsetzende Wind wehte dicke Tropfen von den kahlen Ästen in ihr Gesicht. Zumindest würde sie bei dem Wetter keinen Spaziergängern begegnen.
Die weiße Irmgardiskapelle hatte sie bald erreicht; die Quelle befand sich ein wenig unterhalb. Seitlich führte ein Weg zwischen Bäumen hinab. Sie hielt kurz an, um die alte Linde vor dem Häuschen zu betrachten, die man mit Eisenstangen gestützt hatte. Unbarmherzig drückte sich das Metall in das weiche Holz. Bei dem Anblick des kalten, kahlen Baumes mit seinem eisernen Korsett verengte sich ihre Kehle einen Moment lang. Es war merkwürdig, dass die vermeintlichen Selbstverständlichkeiten irgendwann zu Ende waren. Die Linde hatte Lene schon als kleines Kind gekannt, geliebt, bewundert. Und doch überlegte man, sie zu fällen. Das war, als würde man die Kapelle einreißen.
Vorsichtig ging sie auf dem glitschigen Waldboden weiter hinunter und hockte sich dann vor das kleine Gewölbe der Quelle, die die Bewohner Süchtelns liebevoll »Pöttsche« nannten. Wenige Meter über ihr ragte das Gebäude der Kapelle in den Winterwald. Von dort sah das Häuschen größer aus als es war. Mit einem tiefen Atemzug richtete Lene ihren Blick auf die dunkle Öffnung, in der es ganz leise tröpfelte. Ihr ging die Geschichte durch den Kopf, dass Frauen dort mit einem Stück Lebkuchen oder Brot in früherer Zeit um Nachwuchs gebeten hatten.
Es soll immer noch welche geben, die daran glauben, dachte sie mit einem Schmunzeln und bückte sich ganz tief, um in die Höhle zu blicken. Sie packte Streichhölzer und eine Kerze aus und entzündete sie, um den dunklen Ort zu beleuchten. Die Wände waren glitschig. Sie bemühte sich, ihren Mantel davon
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