Nebelgrab (German Edition)
fernzuhalten. Die kleine Flamme der Kerze reichte aus, um zu erkennen, was ihr nicht behagte: Die Tasche war weg.
Hubert hatte damals, kurz bevor er zum Schanzeinsatz musste, geschworen, die Tasche sei sicher versteckt. Es müsse schon jemand regelrecht hineinkriechen, um sie zu entdecken. Mit Laub und Holz habe er sie sehr gut abgedeckt.
Doch sie war weg.
Lene richtete sich auf und erschrak, als sie einen Mann neben sich stehen sah.
»Was suchen Sie?«, fragte der Fremde.
Lene sah ihn argwöhnisch an. »Ich bete nur.«
»Dafür muss man sich nicht so bücken.«
»Lassen Sie mich in Ruhe. Das geht Sie nichts an.«
»Sind Sie Lene?« Lene blickte ihn erstaunt an. »Woher wissen Sie das?«
»Entschuldigung, meine Manieren. Ich heiße Albert und lebe nun bei Ihrer Tante.«
Verwirrt, aber erleichtert ergriff Lene die dargebotene Hand.
»Und warum folgen Sie mir in den Wald?«, fragte sie und konnte nicht umhin, Misstrauen zu empfinden.
»Ich wusste nicht, ob Sie es sind, und traute mich nicht, Sie anzusprechen. – Ihre Tante sagte mir, Sie gingen in den Wald, und da sonst niemand hier ist – also, dachte ich mir, das muss sie sein.« Er zuckte mit den Schultern und versuchte ein Lächeln.
Er mochte Anfang 20 sein und hatte dunkle
Haare, einen Schatten von Bart und eingefallene Wangen. Die Augen lagen tief in den Höhlen. Lene fühlte sich an die Kriegsheimkehrer erinnert. Es kamen immer noch Heimkehrer aus der Gefangenschaft. Manchmal ertappte sie sich bei dem Gedanken, froh zu sein, dass ihr Vater nicht so ausgemergelt wiederkommen würde. Sogleich hatte sie das Bedürfnis nach einer Beichte.
»Was möchten Sie von mir, Albert?«
»Ich habe eine Nachricht von Marek Koscinski an Sophie und hoffte, Sie würden mir dabei helfen.«
Marek! Du liebe Güte, lange hatte sie den Namen nicht mehr gehört. Und nach so langer Zeit tauchte er mitten im Wald wieder auf. Sophie hatte den Mann bestimmt schon vergessen. Was hatte es nur damit auf sich, dass sie erstens die Tasche nicht fand und zweitens von einem Fremden an den Polen erinnert wurde? Ihr wurde ein wenig schwindelig und sie raffte ihren Mantel am Kragen zusammen; sie wollte sich auf den Rückweg machen.
»Wir können bei meiner Tante darüber reden«, sagte sie barscher, als sie wollte.
»Marek ist hier in Süchteln.« Albert redete unbekümmert weiter.
»Warum ist er hier?« Lene blieb stehen und drehte sich nach dem Fremden um.
»Er will mit Sophie reden.«
»Und warum sagt er ihr das nicht selbst?«
»Ganz einfach, Sophie wohnt nicht mehr da, wo sie einst lebte.«
»Sind Sie auch aus Polen?« Lene versuchte, das Gespräch zu drehen – irgendetwas stimmte hier nicht.
»Nein, mich hat es aus Ostpreußen an den Niederrhein verschlagen.«
»Und woher kennen Sie Marek?«
»Aus einem Flüchtlingslager.« Lene erinnerte sich daran, dass Marek kurze Zeit, nachdem Sophie ihn vorgestellt hatte, verschwunden war. Keiner hatte zunächst gewusst, was aus ihm geworden war, bis der Bauer, bei dem er als Arbeiter eingesetzt war, eingestanden hatte, dass er ihn eines Nachts weggebracht hatte. Der Bauer hatte Marek und Sophie beobachtet und verhindern wollen, dass den beiden etwas passiert. So hatte er dafür gesorgt, dass sie sich nicht wiedersahen. Die Spur zu Marek war verwischt worden.
Und plötzlich tauchte er wieder auf.
»Hören Sie, ich weiß nicht, warum dieser Marek nicht selber kommt, sondern Sie schickt, und das behagt mir nicht. Ich kann meiner Freundin sagen, dass er wieder da ist, und wenn sie Interesse hat, ihn zu sehen, lasse ich es Sie wissen. Ansonsten bitte ich Sie, mich in Ruhe zu lassen.«
»Das ist nicht so einfach – ich glaube, Sie und Ihr Cousin sollten auch Notiz davon nehmen, dass er wieder hier ist.«
Lene horchte auf und das ungute Gefühl verstärkte sich.
Der junge Mann sprach weiter: »Ich weiß nicht, was Marek mit Ihnen zu schaffen hat, aber für mich springt eine Belohnung dabei raus, wenn ich Sie zu ihm führe. – Gehen Sie darauf ein?«
In Lenes Schädel rotierte es. Das konnte doch alles kein Zufall sein!
»Also gut«, sagte sie schließlich, »ich vereinbare mit Hubert und Sophie ein Treffen und gebe Ihnen Bescheid.«
Mit wackeligen Beinen trat sie den Heimweg an.
»Und vergessen Sie nicht die andere Freundin!«, rief Albert ihr hinterher.
Aufgeregt redeten alle durcheinander.
»Warum nimmt er nicht einfach die Sachen und verschwindet damit?«, fragte Martha verwundert.
Sie,
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