Nebelgrab (German Edition)
Es war leicht gewesen, Dinge im Sande verlaufen zu lassen. Jeder war mit seiner Lebensgestaltung beschäftigt. Konrad und Martha schienen das Paar zu sein, unzertrennlich und kompatibel. Bis Konrad ein berufliches Angebot in Übersee bekommen hatte. Die Koffer hatte er so schnell gepackt, dass es den Anschein hatte, er wolle fliehen. Vier Jahre lang war er in Amerika geblieben, vier Jahre lang hatte er Martha vergessen, von Hubert und den anderen ganz zu schweigen.
Süchteln, das nicht in dem Ausmaße von Zerstörung betroffen war wie die Nachbarstädte, wurde mit Kraft und Elan wieder hergerichtet. Die Bevölkerung rückte näher zusammen, man errichtete Steinbauten als Notunterkünfte und nutzte so das ehemalige Gelände des botanischen Gartens auf eine ganz andere Art als in den Zeiten vor dem Krieg. Auch das Gebäude des Mädchenpensionats in der Bergstraße wurde weiterhin als Unterkunft und Heimat für verschiedene Gruppen genutzt. Neben den Schwestern lebten dort Flüchtlinge, einzelne Damen, Schülerinnen; Kinder belebten den religiös geprägten Alltag. Mit Einkehrtagen und Seminaren hielt das Haus seine Pforten für die Bevölkerung der Stadt offen.
Industriell ging es bergab im Städtchen des Westens; die Menschen mussten sich beruflich mehr nach außen orientieren. Allein die Kliniken konnten sich weiterhin behaupten. Die Politiker waren sich über Süchtelns Zukunft nicht einig. Was dem einen gelungen war, wurde vom anderen rückgängig gemacht. Wenn es vor dem Krieg manches Mal so ausgesehen hatte, als könne die Kleinstadt durch sportliche Veranstaltungen, die weit mehr als die heimische Bevölkerung anzogen, der Unwichtigkeit entfliehen, so änderte sich das spätestens in den 50er Jahren, als Pläne zur Umgestaltung der Süchtelner Höhen zum Reitmekka in irgendwelchen Schubladen verschwanden und die Städte ringsum mehr und mehr Arbeiter benötigten und noch nicht einmal mehr der berühmte Süchtelner Möhrensamen geordert wurde. Vieles drohte zu verfallen; vieles drohte zu verschwinden. Vielleicht sah man es nicht rechtzeitig; vielleicht wollte man nicht erkennen, was passierte und was unterblieb.
Martha, die von einem Tag auf den anderen alleine war, widmete sich wieder ganz ihrer Familie, die sie immer noch mit ihrer Arbeit und Tatkraft über Wasser hielt. Sie verarbeitete die Enttäuschung über das verlorene Liebesglück mit sozialem Engagement, half in der Kirche mit, wo immer Hilfe gewünscht war, sorgte sich um Alte und Kranke und erhielt auf dem Weg vielleicht die Anerkennung, die ihr anderswo versagt blieb.
Sophie hatte sich gegen den Heiratsantrag von Marek entschieden. Sie blieb Marthas beste Freundin. Die beiden hatten durch den Zwist mit Lene und Hubert den Kontakt zu den Beckers zwischenzeitlich verloren. Die ehemaligen Freunde sahen sich auf der Straße, in der Kirche, bei Lenes seltener werdenden Besuchen in der kleinen Stadt, aber man bemühte sich nicht, die Straßenseite zu wechseln, um ein Gespräch zu führen. Zuwinken oder ein freundliches Nicken, manchmal auch ein frostiger Blick, reichten ihnen in den frühen Jahren der 50er als Kontakt.
Sophie gründete mit einem jungen Mann aus Dülken eine Familie. Hubert zeugte mit seiner Käthe zwei Kinder und richtete sich in Mönchengladbach häuslich ein. Man wusste immer, wo die anderen lebten, und als schließlich das Telefon zum normalen Repertoire eines Haushaltes gehörte, notierte man sich auch die Nummern der früheren Freunde, die man von irgendwem gesagt bekam, aber es fehlte den Beckers ebenso wie Martha und Sophie stets der Grund, einen Anruf zu tätigen. Es schien, als habe der Streit um die Zukunft der Tasche die Freundschaften endgültig gespalten.
Hubert hätte auf eigene Faust die Fundstücke verkaufen können. Hubert, der immer klamm an Geld war, wurde hin und wieder von solchen Gedanken geplagt. Doch er hatte eine kluge Frau, die ihn mit den Jahren besser kannte als er sich selbst. In gewissen Abständen sprach sie indirekt, aber konkret sein Gewissen an und verabscheute unmoralische Handlungen so vehement, dass es ihn nachhaltig beeinflusste.
Lene war in der Krefelder Textilfabrik von der einfachen Sekretärin zur Chefsekretärin aufgestiegen. Mit viel Elan ging sie täglich an die Arbeit und hätte sich mehr als ihre kleine Wohnung in einem Mietshaus leisten können. Ihre sparsame Lebensweise wurde durch ein stetig wachsendes Sparvermögen belohnt, das ihr eine unbeschwerte Zeit der Familiengründung
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