Nebelriss
blindem Gehorsam der obersten Priesterin ergeben - der Königin. Sie trägt das Blut des Sonnengottes Agihor in sich, des höchsten Gottes von Arphat. Ihr Wille ist Befehl, sie gebietet über Leben und Tod; eine Herrscherin mit dem Anspruch auf ungeteilte, absolute Macht.«
»Ein solcher Anspruch lässt sich selten durchsetzen«, erwiderte Baniter. »Gibt es keine Adeligen, keine Kaufleute oder Gilden, die ihre Macht beschränken?«
»Es gab Zeiten, in denen sich das Königshaus dem Willen einzelner Sekten und Kriegsherren beugen musste. Doch diese Zeiten sind lange vorbei. Intharas Vater, der gefürchtete König Brundir, ließ nach seiner Krönung sechshundert seiner Gegner hinrichten: Priester, Krieger und Zauberer, die sich ihm entgegenstellten. Als Inthara vor sieben Jahren den Sonnenthron bestieg, tat sie es ihm gleich -und damals war sie noch ein Kind, kaum vierzehn Jahre alt! Sie hat das Land seitdem mit unglaublicher Härte und Grausamkeit geführt, unterstützt von den Priestern des Agihor. Glaubt mir, Fürst Baniter, es gibt heute niemanden in Arphat, der es wagt, sich ihr entgegenzustellen.« Seine Stimme zitterte vor Ehrfurcht. »Sie herrscht in Praa wie eine Göttin! Das Volk fürchtet und verehrt sie, und sie gilt schon jetzt als eine der mächtigsten Herrscherinnen, die Arphat je gesehen hat.«
Akendor blickte den Siegelmeister nachdenklich an. »Mir kam zu Ohren, dass sie eine wahre Augenweide sein soll, eine Frau von nahezu vollkommener Schönheit.«
»In der Tat«, bestätigte Mestor Ulba. »Zwar sah ich sie nie mit eigenen Augen, doch allen Schilderungen nach muss sie die Schönheit einer Göttin besitzen. Ihr dunkles Haar soll schimmernder Seide gleichen, ihre Augen blitzenden Diamanten, und auch ihr Körper muss von unglaublicher Anmut sein. Als sie am Fest ihrer Volljährigkeit durch die Straßen von Praa zog, sanken zahllose Männer tot zu Boden, da ihnen der Anblick ihrer Vollkommenheit einen Stich ins Herz versetzte!«
»Solche Märchen lasse ich mir lieber von unserer Dichterin erzählen«, unterbrach Baniter ihn verärgert. »Mir genügt der Hinweis, dass Inthara von einem gewissen Liebreiz sein muss - eine Eigenschaft, die sich oft mit Eitelkeit paart. Vielleicht ist dies eine Schwäche, die sich ausnutzen lässt.«
»Oft paart sich Schönheit auch mit Selbstbewusstsein«, warnte Mestor Ulba. »Man sagt Inthara große Skrupellosigkeit nach. Ihre Geschwister hat sie bereits in jungen Jahren beiseite schaffen lassen; niemand weiß etwas über ihren Verbleib, doch es gilt als sicher, dass sie nicht mehr am Leben sind. Inthara ist inzwischen zweiundzwanzig; sie weiß, dass sie jung ist und ihre Herrschaft noch viele Jahre andauern wird. Ihr solltet sie nicht unterschätzen, mein Fürst.«
O
nein, das werde ich nicht,
dachte Baniter. Doch die Begeisterung des Siegelmeisters widerte ihn an.
Ulba lässt sich zu sehr von dieser allgegenwärtigen Inszenierung der Grausamkeit blenden. Er wagt nicht den Blick hinter die Fassade
-
den Blick auf das wahre Arphat, das ich zu finden hoffe und mir zu Diensten machen will.
»Wie kommt es, dass eine so mächtige Frau unverheiratet geblieben ist? », hakte er nach.
»Der Ehebund ist in Arphat ausgesprochen selten«, erklärte Ulba. »Er gilt als heiliger Akt; durch ihn werden zwei Seelen miteinander verbunden, und allein die Götter mögen das Urteil fällen, ob eine Seelenverwandtschaft zwischen Mann und Frau vorliegt. Gerade Könige und Königinnen verzichten meist auf den Ehebund, um die Götter nicht mit einer falschen Wahl zu erzürnen. Ohnehin sind eheliche und uneheliche Kinder vor dem Gesetz gleich. Das Erbe steht dem Erstgeborenen zu, unabhängig von seinem Geschlecht.«
Beachtenswert,
dachte sich Baniter. »Arphat wird also von einer unverheirateten Frau und einem Haufen Priester geführt«, fasste er Ulbas Erläuterungen zusammen. »Welche Rolle bleibt dabei den Zauberern der Calindor vorbehalten?«
»Ihre Bedeutung ist gering. Als der Zauberer Durta Slargin - hierzulande nennt man ihn Durtha Slargo - durch Arphat zog und die Loge begründete, verbot er seinen Schülern, sich weiterhin an religiösen Praktiken zu beteiligen. Bis zum heutigen Tag ist die Calindor an keine der großen Sekten gebunden und hat deshalb nur geringen Einfluss auf die Geschicke des Landes, anders als die Malkuda in Kathyga oder die Tathrilya in unserem Land. Die Zauberer der Calindor unterstehen dem Willen der Königin; sie haben sich in Zirkeln
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