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Nebelriss

Nebelriss

Titel: Nebelriss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Markolf Hoffmann
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»Diese Zeiten mögen vorbei sein, Fürst Baniter, doch wer jene mächtige Burg auf dem Yanur-Se erblickt, den übermannt ein seltsames Gefühl der Ehrfurcht; der ahnt urplötzlich, welche Größe dieses Land besessen hat.«
    Die Dichterin wandte den Kopf und blickte Mestor Ulba an. Ihre Augen waren stark gerötet, das faltige Gesicht fahl und schweißbedeckt. »Es ist seltsam … ich glaube, diese Festung in einem Traum gesehen zu haben«, sagte sie nachdenklich. »Ich sah mich am Fuß einer Burg stehen, die jener dort glich; sie war aus dunklem Gestein, ihre Mauern verwittert. Ich hörte Gesang aus dem Innern dringen, lachende Stimmen, den Klang von Harfen und Flöten. Als ich die Burg jedoch betrat, um an dem Fest teilzunehmen, fand ich sie verlassen vor; nichts als Staub und Moos und Ungeziefer war innerhalb der Mauern. Dennoch folgte ich den seltsamen Klängen; sie führten mich zu einem Festsaal, halb zerfallen und mit eingebrochenen Wänden. An der Festtafel, auf der fingerdick der Staub lag, saßen die zerschundenen Gerippe einstiger Krieger. Die Schwerter in ihren Händen waren schwarz vor Rost, die Rüstungen löchrig und zerbeult. Am Kopf der Tafel saß auf einem Thron ein dunkelhäutiger Mann mit einer roten Haube. Er war an die Tafel gekettet, sein Körper entblößt und mit Wunden übersät. In den Händen hielt er einen Reif aus Silber und einen schwarzen Schlüssel; er umklammerte sie und lachte dabei schallend, sodass die Wände der Burg bebten, und von seinen Finger rann Blut und benetzte die staubige Tafel.« Lyndolin Sintiguren stockte. »Dann fielen seine Augen auf mich. Schmerz und Trauer sprachen aus seinem Blick und berührten mich tief. Er rief mich zu sich und befahl mir, ein Lied auf seine Herrschaft zu singen; und ich tat es, denn ich fühlte mich ihm auf eigenartige Weise verbunden!« Sie hielt inne und öffnete die Augen. »Als ich das Lied anstimmte, erwachten die toten Krieger zum Leben; den Knochen wuchs neues Fleisch, und die Schwerter erstrahlten in neuem Glanz. Und die Krieger stimmten in mein Lied ein mit rauen Stimmen … ein merkwürdiger Gesang, den ich nicht vergessen kann.« Sie starrte wieder zur Festung von Talanur empor. »Es war diese Burg, die ich in meinem Traum sah - die Augen von Talanur, wie Ihr sie nennt! Ich erkenne sie wieder, Siegelmeister!«
    Aus Mestor Ulbas Gesicht sprach Unverständnis. »Ein gefesselter König herrscht in den Mauern der Festung von Talanur - das ist fürwahr eine erstaunliche Vision. Was bedeutet sie, Lyndolin Sintiguren?« Die Dichterin schüttelte den Kopf. »Sie war ein einziges Rätsel für mich, denn ich kannte weder die Burg noch ihre Bedeutung. Nun, da ich die Augen von Talanur erblickt habe, mag sich mir der Traum erschließen. Er mag mir etwas über Arphats Schicksal enthüllen.«
    Baniters Blick verdüsterte sich. »Lasst Euch mit der Deutung dieses Traumes ruhig Zeit«, sagte er rasch, »viel Zeit!«
Hat sie vergessen, was ich ihr am Rand der Schlucht gesagt habe?
»Solche Visionen können uns am Hof von Praa nur Probleme bereiten! Hütet Euch davor, sie der Königin zum Besten zu geben.« »Wie kann Euch ein Traum so ängstigen, wenn Ihr ohnehin nicht an die Wahrheit meiner Prophezeiungen glaubt?«, entgegnete die Dichterin sanft.
    »Ich glaube nicht an ihre Wahrheit, aber durchaus an ihre Kraft«, erwiderte Baniter, »und mich ängstigt nicht der Traum, sondern die Frage, wie Inthara ihn deuten könnte.«
    »Um diesen Traum zu deuten, braucht es keine Wahrsagerei«, sagte Mestor Ulba mit einer fast wehmütigen Stimme. »Einst war Arphat mächtig und stolz; man nannte es das Reich aus Gold und Eisen, das Reich der hundert Städte. Sein Name ließ die Welt erzittern! Heute ruft der Name nur Hass hervor. Niemand gedenkt mehr Arphats Ruhm und Größe.«
    »Ein Ruhm, der auf Krieg und Sklaverei beruht«, spottete Baniter Geneder. »und eine Größe, die dahingegangen ist. Nichts davon ist geblieben.«
    »O doch«, widersprach Mestor Ulba, »man spürt den Atem der Vergangenheit. Von diesem Punkt aus, Fürst Baniter, wurde einst die Welt regiert.« Er wies Richtung Norden, wo man den Pass von Talanur erkannte. Der Weg der Pracht mündete in einen schmalen Einschnitt des Gebirges und verschwand zwischen den klaffenden Felskeilen. Oberhalb dieser Felsen lag ein riesiger, rostroter Steinbrocken. Er hatte sich wie ein mächtiges Dach über sie gelegt. »Das Tor von Talanur … hier stand vor eintausendneunhundert Jahren das Heer des

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